In diesem Rahmen entfaltet sich die Handlung in zwei parallelen und sich steigernden Schüben, 1, 1–2, 2 und 3, 1–4, 3, in denen jeweils zwei Szenen mit Alcmene stehen: die erste, 1, 3, Alcmene mit Jupiter, in ungetrübter Harmonie, Alcmene ahnt nichts Böses, bedauert nur, daß ihr geliebter scheinbarer Amphitryon sich schon wieder verabschiedet, 2, 2 aber erscheint der echte Amphitryon, und es kommt zu schweren Vorwürfen, jeder wähnt sich im Recht, schließlich geht Amphitryon, einen Gefährten zu holen, der ihm bezeugen soll: Er war in dieser Nacht nicht bei Alcmene. Aber selbst wenn es dazu käme, würde das Problem nicht gelöst, es könnte wieder nur Aussage gegen Aussage stehen. Wir stehen am Ende des ersten Teils und wären eigentlich somit an einem toten Punkt, aber hier greift Jupiter erneut ein, der zu Alcmene zurückkehrt, um nochmals die Freuden der Liebe zu genießen und um die Menschen in noch größere Verwirrung zu stürzen: Das ist die berüchtigte frustratio maxima (875). Dafür muß Jupiter indes in dem nächsten Auftritt mit Alcmene, 3, 2, diese erst einmal wieder friedlich stimmen, was nur unter Einsatz aller Künste des Charmeurs gelingt. Später, 4, 2a, trifft allerdings auf Alcmene wieder der echte Amphitryon, der nichts von einer Versöhnung weiß, und die gegenseitige Heftigkeit muß beträchtlich werden. Wir haben also zweimal die Folge Alcmene mit Jupiter, dann mit Amphitryon, mit Jupiter friedlich bzw. nach Verstimmung wieder friedlich, mit Amphitryon feindselig bzw. feindselig in zweiter Potenz.
Diese vierte Alcmene-Szene ist allerdings nicht erhalten und wurde von unserem Ergänzer auch nicht erschlossen, geschweige denn rekonstruiert. Die Amphitruo Amphitruo-Fragmente 7 bis 10, die auf diese Szene hinweisen, kannte er wie auch alle weiteren Fragmente offenbar nicht – erst die Ausgabe von Camerarius Camerarius d.Ä., Joachim(1552) hat die Fragmente gesammelt –, und allein aus der Symmetrie des Aufbaus wurde ihm die Szene auch nicht deutlich. Aber das sollten wir ihm nicht so übel nehmen, denn darauf ist keiner der berühmten Gestalter des Amphitryon-Stoffes je gekommen, nicht CamõesCamões, Luís de, de RotrouRotrou, Jean de, MolièreMolière, DrydenDryden, John, KleistKleist, Heinrich von.3
Um diese Kernszenen gruppieren sich Auftritte von Herren und Dienern, die im Grundton mit den Alcmene-Szenen kontrastieren: Geht es dort um eheliche Treue im Adelshaus, so hier um Gehorsam des Sklaven.4 2, 1 tritt auf Amphitryon mit Sosia, also zwei Echte, die an sich zusammengehören, aber der Herr ist verärgert, daß der Sklave ihn nicht, wie befohlen, in seinem Haus angemeldet hat, und daß er dafür völlig unglaubhafte Entschuldigungen vorträgt (Bezug auf 1, 1). 3, 3 bringt falschen Amphitryon und echten Sosia zusammen, in vorläufig spannungsloser Situation, Sosia hält Jupiter für seinen wirklichen Herrn und geht auf dessen Befehl ab, einen Gast herbeizuholen. Dann findet sich aber auch wieder Mercur als falscher Sosia im Hause ein, um, wie schon 1, 1, Jupiter vor ungebetenem Besuch zu schützen. So gerät der zurückkehrende echte Amphitryon 4, 2 an den falschen Sosia, der ihn nicht einläßt, sondern nur übel beschimpft und mit Gegenständen nach ihm wirft. Alsbald trifft der erboste Amphitryon auf den echten Sosia, der wieder einmal ausbaden muß, was sein Doppelgänger angerichtet hat, 4, 2b. Diesmal geht es aber nicht nur um scheinbare Pflichtvergessenheit, sondern um grobe Verbal- und Realinjurien des Sklaven gegenüber dem Herrn. So ist in diesem zweiten Durchgang jede Auseinandersetzung von größerer Heftigkeit geprägt. Zudem vernimmt Amphitryon im ersten Teil über den falschen Sosia wie auch über den falschen Amphitryon nur Berichte (2, 1 durch Sosia, 2, 2 durch Alcmene), im zweiten aber tritt er den beiden falschen Doppelgängern Aug in Aug gegenüber (4, 2 Mercur, 4, 3 Jupiter).
Nicht erhalten, sondern nur rekonstruiert sind in diesem Gesamtbild die Szenen 4, 2 teilweise, 4, 2a und b ganz, 4, 3 teilweise. Von unserem Ergänzer des 15. Jh.s ist, wie gesagt, die Szene 4, 2a zwar nicht erfaßt, aber das Ende von 4, 2; 4, 2b ganz, und der Anfang von 4, 3. Insgesamt übrigens 187 Verse.
Diese Szenen sind alle von Strukturparallelen betroffen, die Reinhardt auf Grund des eindeutig rekonstruierbaren jeweiligen Personals beobachtet hat: 4, 2 wiederholt steigernd die Sperrung des Hauszugangs durch Mercur 1, 1; 4, 2b und 2, 1 sind Auftritte des über Sosia entrüsteten Amphitryon; 4, 3 entspricht der Doppelgängerszene von 1, 1. Der Auftritt 1, 1 ist dabei sozusagen polyvalent,5 denn er gleicht in manchen seiner Elemente der Szene 4, 2: Abwehr eines Besuchers vom Haus durch den falschen Sosia, in anderen der Szene 4, 3: Begegnung, übrigens jeweils einmalige, von einem Paar von Doppelgängern.
Machen wir uns klar, daß wir erst durch Reinhardt die Augen geöffnet bekommen haben für diese Strukturparallelen. Der Verfasser des Supplements aber konnte auf derlei philologisch-analysierende Literatur nicht zurückgreifen, er mußte sich selber ein Bild machen von dem, was das Stück zusammenhält, und er hat zum großen Teil genau dasselbe gesehen wie Reinhardts Analyse, an die 500 Jahre vor diesem. Denn er hat in den erhaltenen Szenen die jeweiligen Abschnitte und Stufen der Auseinandersetzung erkannt und diese auf die verlorenen Parallelsituationen übertragen.
Zunächst zum Szenenpaar 1, 1 – 4, 2, wo jeweils Mercur erst Sosia, dann Amphitryon daran hindert, das Haus zu betreten: Daß er dem Sklaven Sosia auf ebener Erde gegenübertritt, dem Feldherrn Amphitryon hingegen nur vom sicheren Dach aus, steht so schon bei Plautus. Aber unser Ergänzer gestaltet nun auch die weitere Szene in Entsprechung zu 1, 1: Dort schüchtert Mercur den Sklaven zuerst mit Drohungen ein (295–369), traktiert ihn dann mit Faustschlägen (370–380) und läßt ihn zuletzt durch Argumente an seiner Identität irre werden (381–437, s. argumentis vicit 423). Ebenso beschimpft und bedroht Mercur Amphitryon in dem erhaltenen originalen Rest der Szene 4, 2 ( tibi Iuppiter / dique omnes irati certo sunt qui sic frangas fores 1021–1022, senecta aetate a me mendicas malum 1032, quia enim te macto infortunio 10346), greift dann, nun im Ergänzten, zu Gewaltmaßnahmen, indem er einen Dachziegel auf Amphitryon wirft ( Hac tegula tuum diminuam caput … accipe *5. *8), und macht ihm schließlich klar, er könne gar nicht Amphitryon sein, denn der genieße gerade drinnen die Freuden der Liebe mit Alcmene ( abscede moneo, molestus ne sies, dum Amphytrio Cum uxore […] voluptatem capit *17f.).
Das alles läßt den Feldherrn nicht unbeeindruckt, aber, anders als Sosia 1, 1, gibt er nicht klein bei, sondern besteht darauf, daß dieser andere Amphitryon herbeigeholt werde ( Cupio accersiri *32).
Der Wurf mit dem Ziegel verdient noch etwas mehr Aufmerksamkeit: Das Fragment 4 aus der Lücke geht in ganz ähnliche Richtung: optumo iure infringatur aula cineris in caput . Aber der Ergänzer hat die Fragmente insgesamt ja offensichtlich nicht gekannt, kommt nur mehrmals instinktiv in deren Nähe. Denn wie kann man gewaltsam auf einen Gegenspieler einwirken, wenn man sich hoch über ihm auf einem Dach befindet? Nicht direkt mit den Fäusten, wie gegen Sosia in Szene 1, 1, sondern nur mit Wurfgeschossen. Und wenn man schon auf einem Dach steht, gerät einem da nicht ein Ziegel sogar viel natürlicher in die Hand als ein Asche-Eimer?7 Man ist versucht, zu sagen, daß diese Ergänzung sogar das Original noch übertrifft.
Die zweite Szene des Supplements (= 4, 2b): zu Amphitryon kommt dessen Steuermann Blepharo zusammen mit Sosia, zeigt in erster Linie, daß der Ergänzer die Hinweise auf diese Szene im Erhaltenen sorgfältig berücksichtigt hat: Die bereits 589 und 1030 von AmphitruoAmphitruo angedrohten Prügel werden hier verwirklicht, entsprechend der wesentlich stärkeren Verärgerung Amphitruos.
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