„Bevor wir jetzt zum angenehmen Teil kommen“, begann er, wobei er versuchte, seine Stimme besonders tief klingen zu lassen und dabei sowohl die gestählte Brust als auch den Bizeps vorteilhaft zur Geltung zu bringen, „möchte ich dir das Ganze kurz erklären. Frieda und ich waren gute Kollegen. Und das Einzige, was uns beruflich verband, war, dass wir bei Meyer an demselben Institut arbeiteten. Und mit ClimateSave habe ich nichts zu tun. Ich musste für Meyer nur die Drecksarbeit erledigen und die Berichte vorab lesen und ihm diese dann mit Anmerkungen versehen, weiterleiten. Da ich ein pragmatisch denkender Mensch bin, haben sich meine Anmerkungen in Grenzen gehalten. Erstens denke ich, dass Frieda eine gute Wissenschaftlerin ist, äh war, und zweitens bin ich der Meinung, dass sich unser Obermufti doch selber Gedanken über das ganze Gedöns machen soll, zumal er es ja selbst auch noch liest. Die Schnittmengen mit eurem Projekt liegen eher bei Hans-Peter, ein Post-Doc, der sehr stark in die empirische Überprüfung der bei euch gesammelten Daten und Dokumente involviert war. Im Übrigen hatte ich keinen Zugang zu eurer Datenbank. Das war ein großes Staatsgeheimnis. Die Passwörter waren nur Meyer, Frieda und Hans-Peter bekannt.“
Auf einen Schlag wummerte Barbaras Herz wie wild. Sie spürte es bis zum Hals hinauf schlagen. Bumm – Bumm – Bumm. Hatte diese dumme Schlampe sie doch schon wieder auf eine falsche Fährte gesetzt. Und jetzt saß sie bei diesem dauergeilen Muskelprotz, der offensichtlich keine Sekunde mehr verstreichen lassen wollte, ohne dass es endlich zur Sache kam. Was ihr Angst machte, denn lieber würde sie in ein Kloster gehen, als sich mit diesem geistigen Dünnbrettbohrer einzulassen, den sie sowohl optisch als auch menschlich abstoßend fand. Vor Schreck rutschte ihr beinahe das Herz in die Hose, als sie spürte, wie sich nun sein starker Arm um ihren Rücken legte, und er sie zu sich zu ziehen versuchte. Sie setzte ihre nicht unbeachtliche Masse ein, um dem zu widerstehen, was gar nicht so einfach war, da sich sein Muskeltraining wohl auszahlte.
„Was ist denn? Können wir das berufliche Ratespiel endlich mal hinter uns lassen? Du hast doch auf dem Dating-Portal geschrieben, dass du eine offene Person bist und dass du starke Arme zum Anlehnen benötigst. Dass du neue Erfahrungen suchst, wobei du in dieser Sache bei mir genau richtig bist.“
Sein linker Arm wanderte unaufhaltsam Richtung ihres großen rechten Busens. Nun kam zu dem in Techno-Beat-Geschwindigkeit wummernden Herzen auch noch hinzu, dass ihr schlecht wurde. Richtig schlecht. Der Wein stieß ihr auf und am liebsten hätte sie sich aus der Situation weggebeamt.
„Dein schnell schlagendes Herz verrät mir, dass du es doch auch willst“, betätigte Markus seine poetische Ader, wirkte dabei aber wie ein Fitnesskaufmann, der einer Oma an den Geräten weismachen wollte, dass sie wie Jane Fonda in ihren besten Jahren war.
Er zog sie jetzt mit beinahe brachialer Gewalt an sich heran und versuchte, ihr seine Zunge in den Hals zu stecken. Mit großer Kraftanstrengung stieß sie ihn von sich.
„Das verstehe ich nicht“, jammerte er. „Dabei stehe ich genau auf Frauen wie dich. Gut gebaut, alles dran, wie es sein sollte, sehr fraulich …“
Dieser Typ log auch noch, ohne rot zu werden. Wenn sie nur an Frieda dachte, war ihr klar, dass Markus alles mitnahm, was nur ging, und wohl jeder seiner neuen Eroberungen das Blaue vom Himmel versprach.
„Mir geht es nicht gut!“, behauptete Barbara und bemühte sich, ein glaubhaft klingendes Würgen vorzutäuschen.
„Das ist die Erregung!“, konterte Markus. „Das geht allen so …“
„Nein, mir geht es gar nicht gut“, wiederholte Barbara und nutzte den Moment aus, denn der Doktorand hatte sie für eine Sekunde aus seiner Umklammerung freigegeben, was ihr ein blitzschnelles Aufstehen ermöglichte.
Schnellen Schrittes ging sie zur Türe. Sie hörte, dass auch Markus aufstand und beschleunigte ihren Schritt. Wenn er sie einholte, war sie geliefert. Ein Albtraum, diese Situation, in den diese alte Schlampe sie gebracht hatte. Jetzt musste sie sich beinahe tatsächlich übergeben, da sie sich bildlich vorstellte, wie die beiden …
„Ich gehe mich kurz frisch machen“, spielte sie ihre Trumpfkarte und hörte erleichtert, dass Markus jetzt stehen blieb.
„Das ist eine ausgezeichnete Idee!“
Als sie die Zimmertüre hinter sich geschlossen hatte, versuchte sie sich blitzschnell in dem dunklen Flur, der mit eklektisch zusammengestellten Möbeln vom Sperrmüll vollgestellt war, zu orientieren. Ah, dahinten war die Ausgangstüre. Ihre Rettung!
Als sie sich auf der Schwarenbergstraße befand, stellte sie zufrieden fest, dass viele Menschen auch zu dieser fortgeschrittenen Stunde noch unterwegs waren. Eine Vergewaltigung auf offener Straße schien damit ausgeschlossen. Sie atmete tief durch. Dann hörte sie voller Schrecken, wie sich ein Fenster in dem Mehrfamilienhaus aus den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts öffnete.
„Komm zurück, du Schlampe, wir sind noch nicht fertig“, hörte sie die sich beinahe überschlagende, lächerlich hohe Stimme. „Du weißt ja gar nicht, was dir alles entgeht, du Flittchen!“
Ohne sich umzublicken, beschleunigte sie ihre Schritte und ging die serpentinenartige Straße herunter. Selbst aus einiger Entfernung hörte sie noch Wortfetzen wie „multipler Orgasmus“ und „blutige Muschi“. Sie hatte Angst, dass ihr Herz plötzlich aussetzte oder dass sie ohnmächtig wurde. Aber mit letzter Kraft setzte sie verbissen einen Fuß vor den anderen und sah zu, dass sie Land gewann. Es war einfach unglaublich, was sich heutzutage für Typen im hehren Academia herumtrieben.
Und trotz aller Unannehmlichkeiten hatte sie eine entscheidende Information erhalten. Sie musste sich an Hans-Peter heranmachen. Blieb nur zu hoffen, dass der nicht auch so ein Widerling war.
8.20. Oktober 2020, Stuttgart, Hauptfriedhof
Auf dem Stuttgarter Hauptfriedhof herrschte an einer überschaubaren Stelle reger Betrieb. Die gesamte Friedhofsanlage war gepflegt. Auch hier schienen sich die schwäbischen Attribute der Reinlichkeit zu bestätigen. Der Weg zwischen den Gräbern verlief kerzengerade. Eine neu ausgehobene Grube verriet den traurigen Anlass für den Trubel.
Die Blätter der Bäume hatten sich bereits verfärbt und hier und dort lag bereits etwas Laub am Boden. Ansonsten gab es keinerlei Hinweise darauf, dass es bereits Mitte Herbst war. Ganz im Gegenteil. Die Wetterkapriolen der letzten Wochen setzten sich unbeirrt fort. Denn „Goldener Oktober“ war im Moment eher ein metaphorischer Euphemismus für die knapp unter 30 °C liegende Temperatur und die kräftige Sonne, die mit unerbittlicher Kraft herabschien. Eigentlich, dachte Georg, ist das kein passender Rahmen für eine Beerdigung. Aber, was war schon für eine Beerdigung angemessen? Eine Beerdigung assoziierte er mit schlechtem Wetter – entweder Regen oder mit unerbittlicher Kälte, auch wenn sich dies nicht mit seinen tatsächlichen Erfahrungen deckte. Er schwitzte in dem schwarzen Anzug aus dickem, englischem Stoff, der aus der vornehmen Savile Row in London stammte – ein weiteres Geschenk seines in den Vereinigten Staaten von Amerika lebenden Onkels.
Trotz der hohen Temperaturen hielt er es für angemessen, Frieda mit feierlicher Kleidung aus diesem Leben zu verabschieden. Jetzt erhielt er die Quittung für seine hehren Absichten. Aber er litt nicht alleine, denn auch andere Trauergäste schwitzten gewaltig, obwohl sie die Wahl ihrer Kleidung an der Wettervorhersage orientiert hatten.
Georg studierte die Gesichter – die zahlreichen Sonnenbrillen spielten ihm diesbezüglich einen Streich. Er erkannte dennoch Emotionen wie Trauer, Ungläubigkeit, Fassungslosigkeit, aber auch Gleichgültigkeit. Der Kreis der versammelten Trauergemeinde war überschaubar. Immerhin erkannte er zwei, drei Gesichter aus vergangenen Studientagen. Friedas Eltern waren vor Gram gebeugt. Sie waren aus Hessen angereist. Georg dachte darüber nach, ob es wirklich etwas Schlimmeres geben konnte, als das eigene Kind begraben zu müssen.
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