Ein Grammophon war damals eine große Sache, und in der Gegend hatte niemand eins außer Alice. Ich verbrachte dort viele tolle Stunden damit, Pops und Bessie zuzuhören. Ich erinnere mich an Pops Aufnahme von »West End Blues«, und wie es mich jedesmal überlief. Es war das erste Mal, dass ich jemanden singen hörte, ohne dabei Worte zu benutzen. Ich wusste nicht, dass er einfach das sang, was ihm in den Kopf kam, wenn er den Text vergaß. Baba-ba-ba-ba-ba-ba und all die anderen Vokale hatten für mich eine tiefe Bedeutung, so wie die anderen Worte, die ich auch nicht alle verstand. Nur veränderte sich die Bedeutung zusammen mit meiner Stimmung. Manchmal machte mich die Platte so traurig, dass ich Rotz und Wasser heulte. Ein anderes Mal machte mich die Musik so glücklich, dass ich sogar vergaß, wie viel hart verdientes Geld mich dieses Konzert in der Eingangshalle kostete.
Meine Mutter sah es überhaupt nicht gern, dass ihre Tochter in diesem Haus an der Ecke ihre Zeit verbrachte. Und was sie am wenigsten verstand, war, dass ich keinen Cent heimbrachte. »Ich kenne Eleanora« – Eleanora ist der Name, auf den ich getauft bin –, sagte sie, »sie arbeitet für niemanden umsonst.« Als sie dann herausfand, dass ich mein hart verdientes Geld dazu verwendete, das Grammophon bei Alice zu mieten, um mir Jazz anzuhören, fiel sie fast in Ohnmacht.
Ich glaube, dass ich nicht die Einzige bin, die ihren ersten guten Jazz in einem Bordell gehört hat, aber darauf kam es mir nie an. Wenn ich Louis und Bessie bei einem Pfadfindertreffen gehört hätte, hätte ich die Musik genauso geliebt. Aber eine Menge Weißer hörte Jazz zuerst an Orten wie Alice Deans Bordell, und das verhalf dem Jazz auch zu seinem Namen »Bordellmusik«.
Man weiß heute nicht mehr, was das damals bedeutete: Ein Bordell war fast der einzige Ort, wo sich Weiße und Schwarze auf normale Art und Weise begegnen konnten. Nicht mal in den Kirchen saßen sie nebeneinander. Außerdem waren Häuser wie das von Alice in Baltimore die einzigen Orte, die ein Grammophon hatten und einfallsreich genug waren, die besten Platten aufzugabeln.
Eins weiß ich hundertprozentig sicher: Hätte ich Pops und Bessie aus dem Fenster eines Pfarrhauses gehört, so hätte ich für den Pfarrer die Botengänge umsonst erledigt. Damals gab es jedoch keine Geistlichen in Baltimore wie Norman O’Connor aus Boston, der Jazz liebt und der mittlerweile eine große Zuhörerschar hat, die sich seine Sendungen anhört. Die einzige andere Möglichkeit, damals Musik zu hören, war bei Tanzveranstaltungen. Ich besuchte also so viele wie möglich, nicht, um zu tanzen, sondern um der Musik zuzuhören. Natürlich konnte man nicht erwarten, dass meine Cousine Ida so etwas verstand. Sie warf mir vor, nur nicht zu tanzen und stattdessen am Rand zu stehen, weil ich so besser Kontakt mit Jungs aufnehmen konnte. Und natürlich bekam ich auch dafür meine Abreibung.
Über mein Verhältnis zu Jungs hatte sie sich sowieso schon immer Sorgen gemacht. Wir wohnten damals neben einem Altwarenhändler, der seinen Wagen immer vor der Tür parkte, nachdem er seine tägliche Runde absolviert hatte. Die Jungs aus der Nachbarschaft trafen sich an diesem Wagen, um zu würfeln oder mit Murmeln zu spielen. Ich ging auch hin, um dort meine Zeit zu verbringen. Ich spielte und raufte mit ihnen, aber das war auch schon alles. Eines Tages lehnte sich eine neugierige Alte aus einem Fenster im zweiten Stock und drohte mir mit dem Finger. Dann kam sie herunter, schimpfte und sagte, dass es eine Schande sei, was ich hier mit den Jungs machen würde.
Ich dachte damals noch überhaupt nicht an Sex und machte nichts weiter mit ihnen als das, was sie auch untereinander machten. Ich war eben eine von ihnen. Als mich dieses alte Weib nun so ankeifte, polterte ich einfach zurück: »Sie denken wohl, ich mach’s mit ihnen, he?«
Als sie mich so reden hörte, vergaß sie, weswegen sie eigentlich heruntergekommen war, und fing nun an, sich über meine Ausdrucksweise aufzuregen. Sie hielt es wahrscheinlich für unzumutbar, dass ich das aussprach, was sie gedacht hatte. Mir war es völlig egal, was sie oder sonst jemand dachte. Meine einzige Sorge war nur, dass sie meiner Mutter etwas davon erzählte, denn ich wusste genau, dass sie sich deswegen schon genug Sorgen machte.
»Du weißt, dass du keinen Vater hast«, sagte sie immer zu mir, »und du weißt auch, wie hart ich arbeiten muss. Mach um Himmels willen nicht den gleichen Fehler wie ich.«
Sie hatte ständig Angst, dass es noch einmal schlimm mit mir enden würde und sie mir dann nicht mehr helfen könnte. Doch geschlagen hat sie mich niemals, wenn sie dachte, dass ich etwas angestellt hatte. Sie fing nur an zu weinen, etwas, das ich überhaupt nicht ertragen konnte. Ich wollte ihr nicht wehtun, und ich tat ihr auch nie weh. Bis zu dem Zeitpunkt, als ich anfing, Drogen zu nehmen – drei Jahre vor ihrem Tod.
Die Jungs taten es natürlich trotzdem. Und sie waren auf der Suche nach einem Mädchen, mit dem sie es tun konnten. Ich konnte ihnen da genau sagen, wer dafür infrage kam. Diejenige, bei der man immer ankam, war das unschuldigste Mädchen aus unserem Block. Sie erzählte immer, dass sie einmal eine große Tänzerin werden wollte. Bis dahin trieb sie es mit allen Jungs, und nicht nur mit ihnen, sondern auch mit allen Ehemännern.
Trotzdem war sie immer so verflucht sauber und unschuldig, diese Evelyn, dass sie noch nicht einmal dann »Scheuerpulver« sagen würde, wenn sie den Mund voll damit hätte. Doch mir machten ständig alle, Ida nicht ausgeschlossen, die Hölle heiß, und nur, weil meine Mutter einmal einen Fehler gemacht hatte.
Vor ein paar Jahren, als ich im Royale Theatre auftrat, bin ich noch einmal nach Baltimore gekommen. Ich fuhr mit meinem weißen Cadillac vor das Haus, in dem Evelyn damals wohnte. Meinen Wagen parkte ich dort, wo früher immer der Wagen des Trödlers gestanden hatte. Dieses unschuldige Ding, das einmal eine große Tänzerin hatte werden wollen, lebte immer noch dort. Sie hatte inzwischen sechs Kinder, nicht zwei davon vom selben Vater, war aber immer noch genauso feige und aalglatt. Die Kinder kamen alle raus, und ich kaufte ihnen Eis und gab jedem fünfzig Cent, was für sie eine große Sache war, sodass sie mich für einen großen Star hielten.
Evelyn hatte immer einen jungen Kerl im Haus, so auch diesmal. Er war jung und braun und sah gut aus. Er lehnte sich aus dem Fenster, deutete auf eins der Kinder und sagte: »Das da ist meins.« Ich werde diesen Tag niemals vergessen. Das waren also die Leute, die sich über mich und meine Mutter aufgeregt und sich darum gekümmert hatten, dass wir ja nichts Schlimmes anstellten.
Es gab noch andere Dinge, auf die ich verzichten musste, als ich anfing, das Putzen als richtiges Gewerbe zu betreiben. Ich war nämlich immer in ein kleines Kaufhaus in Baltimore gegangen, um mir Hotdogs zu kaufen. Eigentlich bedienten sie dort keine Schwarzen, aber mir verkauften sie die Hotdogs, wenn gerade keiner hinsah. Wohl weil ich noch ein Kind war und sie außerdem das Geld ganz gut gebrauchen konnten. Erwischten sie mich allerdings dabei, wie ich anfing, meinen Hotdog zu essen, bevor ich draußen war, dann machten sie einen riesigen Aufstand, weil ich angeblich den ganzen Laden in Unordnung brachte.
Was ich außerdem noch mochte, waren weiße Seidenstrümpfe und natürlich schwarze Lackschuhe. Selbstverständlich konnte ich mir das alles nicht leisten, aber ich stürzte einfach in das Kaufhaus, nahm die weißen Strümpfe vom Ladentisch und lief, was das Zeug hielt. Warum auch nicht? Sie hätten sie mir ja doch nicht verkauft, selbst wenn ich das Geld gehabt hätte.
Ich lernte, durch den Hintereingang ins Kino zu kommen und so die fünfzig Cent zu sparen, die es vornerum kostete. Ich glaube nicht, dass ich einen einzigen Film von Billie Dove verpasst habe. Ich war geradezu verrückt nach ihr und versuchte, meine Haare genauso zu frisieren. Schließlich habe ich ihren Namen übernommen.
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