Während alles, was ich machte, schlecht war, fand sie an Henry rein gar nichts auszusetzen. Er war ja schließlich ihr Sohn und konnte nichts Unrechtes tun. Als ich es schließlich überhatte, jeden Morgen eine Abreibung zu bekommen, nur weil er wieder mal ins Bett gemacht hatte, überredete ich Elsie eines Nachts, mit mir zusammen auf dem Boden zu schlafen. Es war kalt, und sie hatte Angst, dass wir frieren würden. »Und wenn schon«, sagte ich, »dann frieren wir eben, aber wenn wir morgen früh nicht erfroren sind, dann ist das Bett nass, und wir liegen nicht drin.«
Genauso war es dann auch am nächsten Morgen. Diesmal schlug mich Ida, weil ich aufsässig gewesen war. »Henry ist eben schwächlich«, sagte sie. Man konnte mit ihr einfach nicht über Henry reden.
Er hingegen machte uns das Leben zur Hölle und versuchte nachts, während wir schliefen, sogar etwas mit uns zu tun, was er »die Sache« nannte. Manchmal waren wir so erschöpft, dieses kleine Herzchen die ganze Nacht abzuwehren, dass wir am Morgen nicht rechtzeitig aufwachten, um in die Schule zu gehen. Weil ich genau wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit Ida darüber zu reden, nahm ich ihn einmal selbst ins Gebet. »Bei mir ist das nicht so schlimm, Henry«, sagte ich, »ich bin ja nur deine Cousine, aber Elsie ist deine Schwester, und außerdem ist sie krank.«
Henry wuchs auf, wurde Preisboxer und schließlich Geistlicher, doch was habe ich nicht alles mit ihm durchgemacht, als er klein war.
Einmal saß ich nach einem Baseballspiel auf dem Bordstein. Ich hatte damals Angst vor dem kleinsten Käfer, vor einfach allem, was krabbelte, und Henry wusste das. An diesem Tag kam er an, hielt eine von Baltimores fettesten Ratten am Schwanz und schwang sie vor meinem Gesicht hin und her.
»Bitte hör auf, Henry«, flehte ich ihn an.
»Was hast du denn? Du hast doch nicht etwa Angst?«, sagte er grinsend, während er immer näher kam.
»Alle Mädchen haben vor Ratten und Käfern Angst«, sagte ich.
Aber er hörte nicht auf. Schließlich schlug er mir mit der Ratte sogar ins Gesicht. Da griff ich nach einem Baseballschläger und verfrachtete ihn damit ins Johns-Hopkins-Krankenhaus.
Ich glaube nicht, dass meine Großmutter mich jemals verstanden hat, aber sie schlug mich zumindest nicht wie Ida, und das war schon ein Fortschritt. Wer mich liebte, das war mein Großvater. Er war ein Halbire und hatte denselben Namen wie sein Vater, Charles Fagan, der direkt aus Irland kam.
Ich jedoch mochte meine Urgroßmutter, die Mutter meines Großvaters, am liebsten. Sie liebte mich, und ich war verrückt nach ihr. Sie hatte als Sklavin auf einer großen Plantage in Virginia gearbeitet und erzählte mir oft davon. Sie hatte ihr eigenes kleines Haus am Ende der Plantage gehabt, während Charles Fagan, der stattliche Plantagenbesitzer, mit seiner Frau und seinen Kindern im großen Haus lebte. Sie bekam sechzehn Kinder von ihm, die außer Großvater schon alle tot waren.
Wir redeten über das Leben, und sie erzählte mir, was es heißt, eine Sklavin zu sein und mit Haut und Haar von einem weißen Mann besessen zu werden, der der Vater ihrer Kinder war. Sie konnte weder lesen noch schreiben, aber sie kannte die Bibel von vorne bis hinten auswendig und war immer bereit, mir eine Geschichte daraus zu erzählen.
Sie war damals sechsundneunzig oder siebenundneunzig und hatte die Wassersucht. Ich kümmerte mich jeden Tag nach der Schule um sie, denn den anderen war sie völlig gleichgültig. Ich umwickelte ihre Beine mit frischen Binden, während ich die alten stinkigen wusch, und manchmal badete ich sie auch.
Seit zehn Jahren schlief sie aufrecht im Sessel, weil ihr die Ärzte gesagt hatten, dass sie sterben würde, wenn sie sich hinlegte. Ich wusste nichts davon, und so kam es einmal, als ich die Binden an ihren Beinen gewechselt und sie mir eine Geschichte erzählt hatte, dass sie mich bat, sie hinzulegen, weil sie so müde sei. Erst wollte ich nicht, aber sie hörte nicht auf zu betteln, sodass ich schließlich Mitleid bekam, ein Handtuch auf dem Boden ausbreitete und ihr half, sich auszustrecken.
Dann wollte sie, dass ich mich neben sie legte, um mir noch eine Geschichte zu erzählen. Da ich am Morgen schon früh aufgestanden war, um die Treppen zu schrubben, war ich auch müde. Und so legte ich mich neben sie. Ich erinnere mich nicht mehr an die Geschichte, die sie mir erzählt hat, denn ich schlief sofort ein.
Vier bis fünf Stunden später wachte ich auf. Großmutters Arm war immer noch um meinen Hals geschlungen. Ich versuchte ihn zu bewegen, aber es gelang mir nicht. Ich versuchte es wieder und wieder, und schließlich bekam ich es mit der Angst zu tun. Ich wusste, dass sie tot war und fing an zu schreien. Die Nachbarn kamen angelaufen. Sie mussten Großmutters Arm brechen, um mich freizubekommen. Dann brachten sie mich ins Krankenhaus, wo ich etwa einen Monat blieb, um mich von dem zu erholen, was sie einen Schock nannten.
Als ich heimkam, machte Ida genau dort weiter, wo sie aufgehört hatte: Sie schlug mich. Diesmal dafür, dass ich Großmutter aus dem Stuhl gelassen hatte. Der Arzt versuchte, sie davon abzubringen, indem er ihr sagte, dass ich noch zu einem Nervenbündel würde, wenn sie so weitermachte. Aber sie machte weiter.
Mit sechzehn war ich eine Frau. Ich war groß für mein Alter, hatte große Brüste, schwere Knochen, alles in allem eine große, fette und gesunde Braut. So fing ich an zu arbeiten, vor und nach der Schule: Babysitting, Botengänge erledigen und in ganz Baltimore diese verdammten weißen Treppen schrubben.
Die Familien in der Nachbarschaft zahlten mir damals fünf Cent, wenn ich bei ihnen putzte. Da ich mehr Geld haben wollte, ließ ich mir etwas einfallen: Ich kaufte mir meine eigene Bürste, einen Eimer, einige Lumpen, Seife und eine große weiße Packung von diesem Zeug, dessen Namen ich nie mehr vergessen werde: Bon Ami.
Als ich das erste Mal auf einer weißen Türschwelle stand und der Hausfrau sagte, dass ich fünfzehn Cent für meine Arbeit haben wollte, traute sie ihren Ohren nicht. Aber ich erklärte ihr, dass der höhere Preis dadurch zustande käme, dass ich meine eigenen Utensilien mitbrächte. Ich glaube, dass sie mich für ein ganz schönes Früchtchen hielt, aber während sie noch überlegte, sagte ich, dass ich die Küche oder das Bad für denselben Preis mitaufwischen würde. Das gab den Ausschlag, und ich bekam den Job.
Diese Weiber waren alle faul. Das wusste ich, und damit köderte ich sie. Ihnen war es egal, wie verdreckt ihre verdammten Häuser innen waren, solange nur die weißen Treppen schön sauber blieben. Manchmal kam ich abends mit neunzig Cent heim, und einmal schaffte ich sogar zwei Dollar zehn Cent, das waren vierzehn Küchen oder Bäder und genauso viele Treppen.
Als ich als Putzfrau anfing, bedeutete das das Ende vom Radfahren, Rollschuhlaufen und Boxen. In der Schule hatten sie uns Mädchen Boxen beigebracht, und obwohl ich es mochte, hörte ich damit auf. Einmal schlug mir ein Mädchen auf die Nase, was mich beinahe ins Jenseits beförderte. Ich zog darauf meine Boxhandschuhe aus und schlug ihr die Hucke voll. Die Sportlehrerin war so sauer, dass ich mich danach nicht einmal in die Nähe der Turnhalle traute.
Aber egal ob ich Fahrrad fuhr oder das dreckige Badezimmer von irgendjemandem schrubbte, immer sang ich. Ich liebte Musik, und wenn es eine Möglichkeit gab, irgendwo Musik zu hören, dann ging ich hin.
Alice Dean hatte damals ein Bordell an der Ecke in unserer Nachbarschaft, und ich erledigte Botengänge für sie und die Mädchen. Damals war ich sehr materialistisch eingestellt: Unter fünf Cent erledigte ich keine Besorgung. Für Alice und die Mädchen machte ich alles, ich wusch die Waschbecken, legte die Seife und Handtücher raus, und wenn sie mich bezahlen wollten, sagte ich nur, dass sie ihr Geld behalten könnten, wenn ich mir im Salon Louis Armstrong und Bessie Smith auf dem Grammophon anhören dürfte.
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