Der Sand dieses Strandes ist weiß, wie die Schaumkronen der Wellen, die sich auf ihm brechen. Wer es liebt, vom tiefen, starken Grollen der Wellen unterhalten zu werden, die vom grünen Atlantik heraufrollen, wird kaum einen besseren Ort dafür finden. Und wer einmal die erhabene Herrschaft der Wellen genossen hat, die sich hier beeilen, ihm zu Füßen zu liegen, wird sich danach sehnen, diese Szene wieder und wieder zu erleben.
Reverend Kidder, der Methodist aus Darien, New York, hat unter den Reisenden seiner Zeit wohl den zärtlichsten und zukunftsträchtigsten Blick auf Copacabana. Man ahnt, welch pure, intime und trotzdem verdrängte Lust am Strand in diesen Worten mitschwingt. Doch die niedergeschriebene Geschichte des Meerbades in Brasilien beginnt nicht mit dem Seufzer des Ästheten angesichts der ihn umgebenden Erhabenheiten. Ihr Anfang ist weitaus nüchterner, man möchte fast sagen: klinisch. Zepter und Äskulapstab gingen eine prägende Verbindung ein, als den Herrscher des portugiesischen Weltreiches João VI. um 1817 – der Berichterstatter Calmon gibt kein genaues Datum an – im brasilianischen Exil eine Zecke biss.
Der Biss entzündete sich, den König warf ein hohes Fieber darnieder, der Hof fürchtete um sein Leben. Die Ärzte verordneten ein Salzwasserbad, was – wie wir noch sehen werden – keineswegs ein altbewährtes Heilverfahren war. König João VI. hatte das Meer vor der Tür, also ließ er eine große Holzkiste – vermutlich eher eine Art Holzkäfig – fertigen und sich darin am Strand von Caju von einigen starken Seeleuten ins Wasser tragen, sodass er sich gesichert und etwa hüfthoch dem therapeutischen Fluidum aussetzen konnte.
Der König stieg also nicht freiwillig ins Wasser. Und in der Tat kam selbst in der positiv wahrgenommenen Landschaft Rios im 19. Jahrhundert der Badestrand praktisch nicht vor.
Der Strand, den wir mit »Copacabana« assoziieren, ist ganz jung. Die »Traumstrände« waren zwar schon immer da, nur träumte niemand von ihnen.
Kaum einer der großen Seefahrer aus Portugal wäre wohl auf die Idee gekommen, freiwillig im Meer zu baden. Cabral, Gonçalves und Co. konnten nicht verstehen, dass die brasilianischen Indios so oft und offenbar mit Vergnügen in die Flüsse sprangen und sich ausgiebig reinigten, aber auch gerne in der Brandung ihres Ozeans plantschten.
Die Angst des Europäers vor dem Meer
Über Jahrhunderte hinweg ging den Europäern ein Bad im Meer wider alle Vernunft, aber auch wider allen Mythos. Denn das Meer war offen, noch nicht von Menschen durch- und vermessen und geprägt von einem unberechenbaren Chaos, das in der Vorstellungswelt der Zeitgenossen unter seiner Oberfläche tobte. Die mythologische Meeresfauna kennt gewaltige Schlangen, Wale oder den Leviathan, den biblischen Drachen. Überhaupt prägt die Bibel das Bild vom Meer als Hort von Unordnung und Instrument göttlicher Strafe, so zum Beispiel durch die Sintflut.
»Sein Brausen, sein Brüllen, die tosenden Ausbrüche seines Zorns können immer aufs neue als Erinnerung an die Sündhaftigkeit der ersten Menschen verstanden werden, die in den Fluten untergehen mußten«, wie es der Kulturhistoriker Alain Corbin in Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste 1750 – 1840 (im französischen Original: Le territoire du vide ) beschreibt.
Man darf nicht vergessen, dass die Mythologie höchst realen Verlusterfahrungen entsprach. Seefahrt war ein äußerst riskantes Unternehmen. Piraten, vor allem aber Stürme lauerten auf die Mutigen. Im Zeitalter der Entdeckungsreisen hatte sich die Schiffstechnik verbessert, doch zugleich nahmen Entfernungen und Wagnis zu. Die Flotte unter dem Kommando Pedro Álvares Cabrals, die im April 1500 Brasilien »entdeckte« und dann nach Indien weitersegelte, startete in Lissabon am 9. März 1500 mit 13 Schiffen. Am 23. Juni 1501 hatten es sechs, möglicherweise gar nur vier Schiffe geschafft, nach Lissabon zurückzukehren.
Noch bis etwa 1840 standen die Meereskatastrophen im Zentrum der Naturgeschichte der Erde und dann der Geologie. Im Angesicht des Meeres bleibt die Naturbetrachtung nicht bei der Naturwissenschaft stehen; Meer ist im Wortsinn Metaphysik. Erst die Expeditionen der Frühen Neuzeit, die ein ganzes Weltbild umstoßen, weil ihr Entdeckergeist das grenzenlose Meer einhegt, und die Ordnungsleistungen der Kartographie (wie die Erfindung der Längengrade im 18. Jahrhundert) machen den Ozean für das aufgeklärte Individuum beherrschbar.
»Küste«, »Ufer« und »Strand« hingegen scheinen fest umrissene und abgrenzbare Fix- und Orientierungspunkte zu sein. Doch auch die Küste ist ein Raum mit unscharfen Rändern, an denen sich die Elemente in unterschiedlicher Weise durchdringen.
Die Definition des Strandes im Duden trägt dieser Unsicherheit Rechnung: »Das flache und sanft ansteigende Ufer des Meeres, seltener eines Flusses oder Sees, das beim höchsten Wasserstand gewöhnlich noch überflutet wird; im allgemeinen besteht es aus Sand und kann von unterschiedlicher Länge und Breite sein; wird häufig mit dem Wort ›Küste‹ gleichgesetzt, bezeichnet aber nicht so sehr das rein sachlich Festgestellte und Gegebene, sondern beschreibt das dem Sprecher in irgendeiner Weise freundlich oder belebt erscheinende Ufer.«
Der Strand ist also weniger ein Faktum oder eine topographische Gegebenheit, sondern eher das Ergebnis einer Haltung. Der Strand ist ein kulturelles Produkt mit einer eigenen veränderlichen Materialität, jenseits von Sand, Salzluft, Sonnenschein und Brandung – und in Europa galt die Küstenlinie, das Grenzgebiet des monströsen Meeres, eben lange als ein Panoptikum der Katastrophen, an dem Wrackteile und Leichen einzusammeln waren. Und noch im 17. und 18. Jahrhundert glaubten Mediziner fest daran, dass das Meer Fäulnis errege.
Badekarren in Brighthelmstone um 1790 – Stich von Samuel Alken
Es wäre allerdings falsch zu sagen, dass die späte Sympathie für den Strand eine originäre Erfindung der Neuzeit wäre. Selbst wenn wir uns auf die europäische Kultur beschränken und bekennen, dass wir nicht wissen, ob die Tupinambá-Jugend, der Polynesier »als solcher« und die Hawaiianerinnen nicht seit jeher die Freuden des Strandes genossen haben: Schon die alten Römer hatten eine Art, sich zur Küste zu verhalten, die uns sehr bekannt vorkommt. Dieses Konzept nannte sich otium und meinte einen der römischen Oberschicht vorbehaltenen Zeitvertreib von Niveau, wie zum Beispiel Lektüre, philosophisches Gespräch, Spaziergänge und andere körperliche Ertüchtigungen. Diese Form der Selbstfindung brauchte besondere Orte. Gegen Ende der Republik kamen bei Cicero, Cäsar, Mark Anton und vielen anderen Villen in der Umgebung des kampanischen Küstenortes Pozzuoli in Mode. Dort standen Lustfahrten über das Meer, Wassersport, Bankette im Freien und Musik an.
Mit dem Untergang des Römischen Reiches aber schwand die Lust am Strand in Europa, und das Interesse an der Küste als »Landschaft« wich der mittelalterlichen Angst und Abscheu vor Ufer und Meer.
Dass Einzelne immer Vergnügen darin gefunden haben, sich am Strand aufzuhalten, dürfen wir annehmen. Doch von einer Konvention des Strandbesuchs oder einer ästhetisch verarbeiteten Naturanschauung der Küste kann erst im 18. Jahrhundert die Rede sein. Dafür brauchte es, so Corbin, das Ineinander von drei Entwicklungen, um Abscheu in Bewunderung zu verwandeln. Eine neue theologische Naturauffassung rechnete Meer und Küste nun dem Gesamtwerk der göttlichen Schöpfung zu, und die Grand Tourists entdeckten in Italien auf der Suche nach der Antike die Schönheiten der Strände. Doch vor allem war eines ausschlaggebend: Ärzte schickten ihre Patienten ans Meer, als sie die Heilkraft seines Wassers wie seiner Luft für Lungenkranke und Nervenleidende erkannten.
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