Die Oberen haben niemals im Stadtzentrum Rios Wohnung bezogen. Wer konnte, wohnte eher außerhalb und erhöht und überließ die Stadtstraßen den Händlern, den Wasserträgern und anderen Haussklaven, dem Markttreiben, den Mücken, dem Müll und dem Gestank.
Prinzregent João und die portugiesischen Adeligen bezogen chácaras , wie die herrschaftlichen Landhäuser genannt wurden, im kühleren São Cristóvão; die Niederen der Entourage suchten sich im benachbarten Rio Comprido eine Unterkunft. Catete, damals südlicher Stadtrand, wuchs um 1820 zum ersten Diplomatenviertel heran. Die französischen Künstler bevorzugten Tijuca, die zahlreichen englischen Geschäftsleute hingegen die strandnahen Glória, Flamengo und Botafogo, dazu etwas landeinwärts Laranjeiras, wo edle Residenzen langsam die Wochenendhäuser ablösten und Straßen die Gemüsefelder einebneten.
Und dann war in Richtung Süden Schluss. Eine Abfolge von Felsmassiven, beginnend mit dem Morro Cara de Cão, auf dem das Sankt-Johann-Fort die Einfahrt in die Bucht überwachte, weiter über den Zuckerhut, Urca, den Telegraphenhügel Babilônia, São João, Cabritos … Wie eine Wand ragten sie auf. Dahinter lagen Leme, Copacabana, Ipanema, Leblon, die zwar bekannt, aber nur auf beschwerlichem Wege zu erreichen waren. Doch schon damals lohnten sie sich für eine Landpartie.
Die zweite Eroberung BrasiliensNaturforscher und Rio-Reisende im Dienste ihrer Zivilisation
Nichts von dem, was ich bisher gesehen habe, kann sich in seiner Schönheit mit dieser Bucht vergleichen. Neapel, die Firth of Forth [in Schottland], den Hafen von Bombay und Trincomalee [im heutigen Sri Lanka] hielt ich alle für perfekt, aber alle müssen hier zurückstehen; die Bucht übertrifft sie alle in je eigener Weise. Erhabene Berge, Felsen, die sich zu Säulen auftürmen, edle Hölzer, helle Blumeninseln, grüne Ufer, dazwischen weiße Häuser; jede kleine Erhebung krönt eine Kirche oder ein Fort; Schiffe vor Anker oder auf Kurs; und unzählige flinke Boote, dazu das angenehmste Klima – all dies zusammen macht Rio de Janeiro zur bezauberndsten Szenerie, die die Einbildungskraft nur hervorbringen kann.
Hätten wir daneben gestanden, wir hätten wohl die Feder vibrieren gesehen, mit der die Engländerin Maria Graham am 15. Dezember 1821 dies notierte. Dieser Augenblick hatte über drei Jahrhunderte den Charakter einer Grenzerfahrung: »Für jeden Menschen stellt die erste Einfahrt in die Bucht von Rio de Janeiro einen prägenden Einschnitt in sein Leben dar«, war sich Reverend Daniel Parish Kidder sicher, der ihn etwa 20 Jahre später erlebte. Der Anblick der Bucht habe die Kraft, einen Menschen zur Einsicht in die Göttlichkeit der Schöpfung zu bewegen. Die Inselkette an der Buchteinfahrt erinnerte den Geistlichen an die Säulen vor dem Tempel von Luxor, die Bergkette im Hintergrund rief in ihm Alpenbilder wach. Viele Autoren bemühten Analogien aus der Weltgeschichte; der Engländer William Scully sah die Stadt »hingestreckt, wie das alte Rom über das Amphitheater seiner sieben Hügel und der dazwischenliegenden Täler«. Der englische Tuchhändler John Luccock vermutete wenige Jahre nach der Ankunft des portugiesischen Hofstaats in diesem Stück Natur-Kultur gar politisch relevante Kräfte: »Der kalte und phlegmatische Politiker des Nordens hat selten die Wirkung einer schönen Gegend auf die menschliche Seele berechnet; sonst würde er wohl nicht erwartet haben, daß der portugiesische Hof seinen neuen Aufenthaltsort verlassen sollte. Dies ist ein stiller, aber mächtiger Sachwalter; seine Wirkung ist allgemein und immerwährend; sie wird bei jedem Aufgang der Sonne erneuert und von jedem Strahl des Mondes unterstützt.«
Und noch gut einhundert Jahre später empfanden viele die Landung in Rio wie Stefan Zweig als »einen der mächtigsten Eindrücke, den ich zeitlebens empfangen«, waren »fasziniert und gleichzeitig erschüttert«.
Zweifelsohne bot und bietet die Bucht von Guanabara ein besonderes Schauspiel: ein Ensemble von Wasser, Inseln, schroffem Bergfels, üppiger Flora und Barockarchitektur, im Panoramablick vom Oberdeck aus zu erfassen. Schönheit, Erhabenheit, Panorama – das sind Schlüsselkategorien des Pittoresken, das die europäische Ästhetik seit dem späten 18. Jahrhundert bestimmte. Zwischen Französischer Revolution und Zweitem Weltkrieg war Brasilien neben Mexiko für Europäer und US-Amerikaner das beliebteste Reiseland Iberoamerikas. Das galt nicht zuletzt für solche Reisende, die ihre Erfahrungen verschriftlichen wollten. Das wohl beste Verzeichnis Bibliografia do Rio de Janeiro de Viajantes e Autores Estrangeiros von Paulo Berger nennt rund 2000 gedruckte Ausgaben von Reiseberichten (Übersetzungen eingeschlossen) zwischen 1531 und 1900, die Betrachtungen zu Rio de Janeiro enthalten. Das 19. Jahrhundert lieferte die reichhaltigste Produktion. Nach 1800 hörte das Fernreisen auf, ein aristokratisches Privileg zu sein. Es war vielleicht das Jahrhundert der Entdeckungsreisen, in dem Menschen des Nordens die Länder des Südens naturwissenschaftlich vermaßen und kartographierten. Fast alle Brasilien-Reisenden, ob sie dem Amazonas, dem dürren Hinterland des Sertão, den deutschen Siedlungen im Süden oder dem noch weitgehend unbekannten brasilianischen Zentralplateau zustrebten, wählten Rio als Start- und Zielort ihrer Exkursionen und Feldforschungen, von den in Geschäften und im Dienst der Diplomatie Reisenden einmal ganz abgesehen. Rio de Janeiro diente ihnen als Schleuse, Übergangszone zwischen Vertrautem und Fremdem; als Ort der langsamen Gewöhnung ans Klima wie an die Kultur. Zentral für die Erkundung der Neuen Welt durch diese Reisenden aber war etwas, was sich in der Bucht von Guanabara in schönster Verklärung zeigte: die Natur.
Kleingeschrieben: Wirkungen europäischer Wissenschaft
»Der allgemeine Eindruck ist wahrhaft erhaben. Aber als der Segler sich der kahlen Küste nähert, sehen wir die besonderen hellblättrigen Bäume Brasiliens, hier und da einen purpurblühenden Quaresma-Baum, wir beobachten die schlangenartigen cacti, wir sehen, wie die reich wuchernden Parasitenpflanzen sogar von den steilen und schroffen Wänden des Zuckerhuts herunterhängen …«
Pfarrer Kidder war durchaus keiner der vielen Botaniker, die Brasilien auf der Suche nach Katalogisier- und Benennbarem durchkämmten, wie die Deutschen Prinz zu Wied-Neuwied, Johann Baptist von Spix und Carl Friedrich von Martius, der Schweizer Louis Agassiz oder der Brite George Gardner, um nur einige der bekannteren zu nennen. Dennoch war die tropische Flora und Fauna ihm besondere Aufmerksamkeit wert, denn in ihr spiegelte sich die Seele dieser Neuen Welt und zugleich ihre Unterlegenheit. Die Lehre des französischen Naturforschers Georges-Louis Leclerc de Buffon, wonach Amerika als feuchter Erdteil ein ungesunder, seine Fauna degenerierender Kontinent sei, war im Europa des 19. Jahrhunderts noch weithin akzeptiert. Für viele andere Autoren war die Bevölkerung des neuen Kontinents zivilisatorisch notwendig unterlegen. Wenige Seiten in Henry Thomas Buckles voluminöser History of Civilization in England über ein Land, das der Autor nie gesehen hatte, stürzten brasilianische Intellektuelle in Verzweiflung. Buckle, der in »Klima, Boden, Nahrung und dem allgemeinen Aspekt der Natur« die wichtigsten Einflussfaktoren auf die menschliche Rasse sah, zählte Brasiliens Natur in ihrer unvergleichlichen Fruchtbarkeit und Üppigkeit zu den Weltwundern. Doch das übermäßige Zusammentreffen von Hitze und Feuchtigkeit überfordere eine unfähige Bevölkerung, so der 1862 verstorbene Brite:

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