Gleichzeitig war auch der deutsche Vorschlag angenommen worden, den ganzen Fragenkomplex der Ratserweiterung durch eine besondere Kommission untersuchen zu lassen, an der Deutschland sich zu beteiligen versprach. Bis zum September hat dann diese Kommission, in der der deutsche Botschafter in Paris, von Hoesch, und der Rechtssachverständige des Auswärtigen Amts, Dr. Gaus, als Vertreter des Reiches fungierten, zweimal getagt und auch einen Bericht ausgearbeitet.
Es wurde jetzt noch ein letzter Versuch gemacht, auf Brasilien einzuwirken. Das Interessante an der von Mello-Franco gegebenen Begründung für die brasilianische Unnachgiebigkeit war übrigens das Argument, daß der Völkerbund keine rein europäische Angelegenheit sein dürfe und daß auch die überseeischen Länder und Kontinente, wie z.B. Südamerika, im Rat durch ständige Mitglieder vertreten sein müßten, wenn die Universalität des Bundes gewährleistet sein sollte. England und Frankreich bemühten sich durch ihre diplomatischen Vertreter in Rio de Janeiro, die Brasilianer zu einem Abgehen von ihrer starren Haltung zu bewegen. Sämtliche südamerikanischen Mitglieder des Völkerbundes richteten dringende Telegramme nach der brasilianischen Hauptstadt. Bis zum letzten Augenblick bestand eine geringe Hoffnung, auf diese Weise eine Lösung der Krise herbeizuführen.
Noch am Morgen des entscheidenden Tages, kurz bevor die Ratssitzung eröffnet wurde, an die sich die Sitzung der Vollversammlung anschließen sollte, wurde die deutsche Delegation aus dem Völkerbundssekretariat gebeten, sich auf alle Fälle für die Aufnahmeformalitäten bereitzuhalten. Ich hatte in dem Zimmer des Hoteldirektors einen Radioapparat entdeckt. Es war ein ganz primitiver, kleiner Kasten, den man nur mit Hilfe von Kopfhörern benutzen konnte, aber ich wußte, daß die Schweizer Sender die öffentliche Vollsitzung der Bundesversammlung übertragen würden, und so stülpte ich mir denn gespannt die Hörer über ...
Ich hatte Glück im Unglück. Ich hatte den Apparat gerade zur rechten Zeit eingeschaltet. Mello-Francos tiefe Stimme mit ihren rollenden südamerikanischen R’s klang an mein Ohr. „Die Entscheidung Brasiliens ist,irrevocable’, unwiderruflich“, klang es mir schrill in die Ohren. Ich eilte sofort ins erste Stockwerk zu Stresemann, um ihm von dieser Wendung zu berichten. Nach einiger Zeit ließ auch er sich einen Radioapparat ins Zimmer bringen und hörte dann mit Luther und seinen engsten Mitarbeitern von seinem Hotelzimmer aus den Verlauf dieser Sitzung mit an, die wir uns so ganz anders vorgestellt hatten, und die uns statt des feierlichen Einzugs in den Weltbund der Staaten nur eine enttäuschende Szene in dem ganz still gewordenen Zimmer des Métropole-Hotels brachte.
„Wir hatten die Schwierigkeiten und die ernsten Mißverständnisse zwischen Deutschland und uns gelöst durch jenen Geist der Versöhnung und des Kompromisses, den auch die deutschen Vertreter in so anerkennenswerter Weise gezeigt haben“, hörten wir Briand von der Tribüne des Völkerbundes sagen. „Jetzt stehen wir vor der Notwendigkeit, uns zu vertragen, ohne unser Ziel erreicht zu haben. Das ist für uns alle eine grausame Ironie des Schicksals“, fuhr er fort, gab dann einen Überblick über die dramatischen Verhandlungen der letzten Tage und schloß mit einer optimistischen Note.
„Wir lassen uns nicht entmutigen, wir empfinden keine Bitterkeit und haben diesem Ereignis, so schmerzlich es auch sein möge, fest ins Auge gesehen, wir haben dafür gesorgt, daß das Friedenswerk von Locarno erhalten bleibt.“ Deutlich hörte man durch den Lautsprecher den minutenlangen Beifall bei diesen Worten des französischen Ministerpräsidenten. „Wir wollen uns aber nicht trennen, ehe wir zum mindesten die vorweggenommene moralische Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund aussprechen“, und nach diesen Worten verlas er eine entsprechende Entschließung, die unter allgemeinem Beifall einstimmig angenommen wurde.
In ähnlichem Sinne sprachen sich dann noch mehrere andere Delegierte aus, aber wir hatten das Interesse verloren, und das Radio wurde abgestellt. Chamberlains. Worte waren uns entgangen, weil er unmittelbar nach dem Brasilianer gesprochen hatte, als wir uns noch um ein Radio für Stresemann bemühten.
Noch am gleichen Abend reiste die deutsche Delegation nach Berlin ab, und ich kehrte, um eine große Erfahrung reicher, wieder zu den Zolltarifpositionen, den Besprechungen über Eisen und Stahl, über Maschinen und Textilien, Blumen und Wein im Rahmen der deutsch-französischen Wirtschaftsverhandlungen nach Paris zurück. Im Schlafwagen Genf–Paris ließ ich noch einmal diese aufregenden Tage mit ihren dramatischen Wendungen und Überraschungen an mir vorüberziehen. Es war das Bild von typisch Genfer Verhandlungen, wie ich sie später noch so oft erleben sollte. Aber ich war nicht entmutigt. Denn mir schien das wichtigste Ergebnis dieser kritischen Tage der Beweis zu sein, den sie für die Widerstandskraft des jüngsten Schößlings der europäischen Völkerverständigung, des Werkes von Locarno, erbracht hatten. Allen Stürmen des Genfer Sees zum Trotz war Locarno nicht untergegangen.
Wie in London und Locarno hatte ich auch hier wieder das Wirken der „Hommes de bonne volonté“, diesmal in einer sehr kritischen Lage, beobachten können. Wenn solche Männer weiter am Werk bleiben, sagte ich mir an jenem Abend auf der Reise nach Paris, dann liegt die Zukunft Europas in sicheren Händen. Das hatte sich klar aus meinen Erlebnissen während dieser ersten Genfer Tage ergeben, wo alles, was nur irgend schiefgehen konnte, schiefgegangen war, wo immer wieder Hoffnungen von Tag zu Tag und zuletzt von Stunde zu Stunde – „grausam“, wie Briand sehr richtig gesagt hatte – enttäuscht worden waren, ohne daß deswegen ein Bruch eingetreten wäre. Im Gegenteil, der Zusammenhalt zwischen Frankreich, Deutschland und England schien mir gerade durch die gemeinsam überstandenen Märzstürme fester geworden zu sein.
6
RÜCKKEHR
IN DIE VÖLKERGEMEINSCHAFT (1926)
Die Wirtschaftsverhandlungen in Paris waren nun für eine lange Zeit wieder meine Hauptbeschäftigung. Aber sie waren es nicht ausschließlich. Schon im Mai nahm ich daneben auch noch an den Verhandlungen teil, die zu dem sogenannten Pariser Luftabkommen führten.
Dieses Abkommen war ebenfalls eine Auswirkung der neuen deutschfranzösischen Verständigungspolitik von Briand und Stresemann. Nach den Beschränkungen des Versailler Vertrages wurde die deutsche Zivilluftfahrt nunmehr völlig frei. Motoren und Flugzeuge konnten von jetzt ab in jeder beliebigen Größe gebaut werden. Der Höhenflug unterlag keiner Beschränkung mehr. Zeppelin-Luftschiffe konnten von neuem konstruiert werden, und die Luftschiffwerft in Friedrichshafen wurde nicht demontiert! Es war ein großer Schritt vorwärts.
Noch oft habe ich später an diese Maitage des Jahres 1926 in Paris gedacht, wenn ich mit der Lufthansa über Europa dahinflog. Auf solchen Flügen hoch über den Wolken, in einer Umgebung, in der einen kaum etwas an den Dunst des Lebens auf der Erde erinnert, wenn die Maschine in den stillen oberen Luftschichten sanfter als ein D-Zugwagen ihre Bahn dahinzieht, kommt man leichter zum ruhigen Nachdenken als im Getriebe der Verhandlungen. Selten ist mir der Zusammenhang zwischen dem, was ich in den Gesprächen der Staatsmänner hinter verschlossenen Türen miterlebte, und dem praktischen Leben des großen Alltags klarer geworden als an diesem Beispiel der wiedererstandenen deutschen Zivilluftfahrt. Am Anfang hatten zwei Männer in ernstem Gespräch über das Verhältnis ihrer beiden Länder und über die Beseitigung der Nachkriegsschwierigkeiten in Europa in einem kleinen Hotelzimmer in Locarno gesessen. Bereits einige Monate danach war ihre Vision teilweise zur Wirklichkeit geworden. Die Grenze zwischen Frankreich und Deutschland war im Luftverkehr verschwunden. Der ersten Fluglinie zwischen Berlin und Paris folgten weitere Verbindungen mit allen Hauptstädten Europas. Bis über den Atlantik nach Südamerika reichte später das Streckennetz der Lufthansa.
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