Wir erfuhren, daß der schwedische Außenminister, obwohl er von Frankreich, England, Spanien, Brasilien und Uruguay immer wieder während der Sitzung angegriffen wurde, bei seinem Standpunkt geblieben war und erklärt hatte, er könne keiner sofortigen Erweiterung des Rates über die Aufnahme Deutschlands hinaus zustimmen. Seine Marschroute sei absolut gebunden.
Ebenso hartnäckig waren aber Spanien und Brasilien in der Verfechtung ihres Anspruchs. Mello-Franco, der brasilianische Vertreter, brachte den Rat, der übrigens in geheimer Sitzung tagte – nur für die Bavaria war sie anscheinend nicht geheim –, in höchste Erregung, als er rundheraus erklärte, Brasilien sei durch die Locarno-Abkommen nicht gebunden und werde daher gegen die Aufnahme Deutschlands in den Rat sein Veto einlegen, wenn seiner Forderung auf einen ständigen Ratssitz nicht stattgegeben werde.
Man kann sich sehr leicht vorstellen, daß in diesem Augenblick „die Diskussion äußerst heftige, sonst nicht übliche Formen annahm“, wie der Korrespondent des Temps seinem Blatt am nächsten Tage meldete, denn damit war ja wieder Locarno in Gefahr und die Außenministersitze wankten.
Inzwischen wartete die deutsche Delegation weiter. Wir waren nun schon fast eine Woche in Genf und antichambrierten in einer für ein großes Land kaum erträglichen Weise. Allen Ernstes wurde erwogen, ob wir nicht einfach abreisen sollten. Über die Bavaria wurden diese Absichten auch als Gerüchte den übrigen Delegationen zugespielt.
Die Wirkung war äußerst prompt. Chamberlain erschien in einer Aufregung, wie ich sie überhaupt noch nicht bei ihm erlebt hatte, bei uns im Hotel. In seiner Hast setzte er die Drehtür derartig in Schwung, daß sie ihn fast wieder auf die Straße geschleudert hätte. Den Fahrstuhl benutzte er nicht, sondern eilte, so schnell er konnte, die Treppe ins erste Stockwerk hinauf zu Luther. Was die beiden miteinander gesprochen haben, weiß ich nicht, denn mit Luther sprach Chamberlain ja französisch und ein Dolmetscher war nicht nötig. Er scheint sich allerdings bei diesem Gespräch dem deutschen Standpunkt sehr erheblich genähert zu haben, und bei der Mittagstafel hieß es, daß die Krise so gut wie beigelegt sei, da Chamberlain bereit sei, die Behandlung des spanischen Antrages auf später zu vertagen.
Nachmittags fanden sich die Locarno-Mächte erneut in Chamberlains Hotelsalon zusammen, genau so wie am ersten Tage. Ich glaubte schon, daß nun alles in Ordnung kommen würde, stellte aber bereits nach kurzer Zeit fest, daß im Gegenteil alles beim alten geblieben war. Briand war mit genau derselben Auffassung aus Paris zurückgekehrt, die er am Sonntag vertreten hatte. Er wollte unter allen Umständen Polen in den Rat bringen. Da fiel auch Chamberlain wieder um. Spaniens Kandidatur wurde erneut in den brodelnden Kessel der Diskussion geworfen. Luther und Stresemann wiederholten ihre Sonntagsargumente und blieben dabei, so sehr sie auch von allen Seiten bestürmt wurden. Trotzdem aber war die Stimmung nicht so aufgeregt. Eine gewisse Müdigkeit machte sich bemerkbar, die eine schärfere Tonart ausschloß.
Am Abend nach dieser Sitzung war die Bavaria in heller Aufregung. „Chamberlain hat heute abend unser Land bedroht“, rief ein schwedischer Journalist in den Raum, „ich war eben bei meiner Delegation. Sie findet Chamberlains Verhalten unerhört.“ Sofort mischten sich die Amerikaner und die Engländer in das Gespräch, alle waren gegen Chamberlain, und es wurde mit harten Worten über diesen ungeschickten Außenminister nicht gespart. Die Presseleute der kleinen Länder schimpften eifrig mit, brachten aber dabei eine neue, interessante Note in die Debatte.
„Was denken sich eigentlich die Locarno-Mächte“, fragte ein Jugoslawe über den Tisch, „sie meinen wohl, sie seien der Völkerbund und könnten die Mehrzahl der kleineren Länder einfach kommandieren, wenn es die Streitigkeiten, die sie untereinander haben, notwendig machen. Hier in Genf hat die Mehrheit zu entscheiden, gleichgültig, ob es sich um kleine oder große Länder handelt.“
Dieser Gegensatz zwischen den „Großen“ und den „Kleinen“ war ein Thema, das noch sehr oft in Genf diskutiert werden sollte. Wie richtig hatten Luther und Stresemann gehandelt, als sie sich weigerten, durch die Teilnahme an den Ratsdebatten in diesen Hexenkessel hineingezogen zu werden.
Nach Mitternacht kam plötzlich der Vertreter der französischen Havas-Agentur in das überfüllte Lokal hereingestürmt. Er schwenkte ein weißes Papier in der Hand. „Kommuniqué der englischen Delegation“, rief er in den Raum und war im Nu von allen umdrängt.
„Es ist Sir Austen Chamberlain zu Ohren gekommen, daß Gerüchte in Umlauf sind, wonach er während der Sitzung des Völkerbundsrates ... der schwedischen Delegation gedroht haben soll. Es wird hiermit erklärt, daß diese Gerüchte frei erfunden sind und jeglicher Begründung entbehren“. Ein vielstimmiges Gelächter war die für Chamberlain wenig schmeichelhafte Reaktion der Weltpresse. Die Bavaria war nicht überzeugt.
In den nächsten Tagen erlebte ich dann innerhalb und außerhalb der immer noch streng geheimen Besprechungen der Locarno-Mächte ein wahres Tauziehen zwischen Luther und Stresemann einerseits und Briand und Chamberlain andererseits um die Lösung der Ratsfrage. Es war in seiner ganzen Art so typisch für die Genfer Methoden, daß die deutschen Neuankömmlinge gleich von vornherein den richtigen Eindruck bekamen und bei späteren Gelegenheiten ähnlicher Art, die sich während unserer siebenjährigen Mitgliedschaft in diesem internationalen Völkerverein noch sehr zahlreich ergaben, kaum noch Überraschung empfanden.
Kompromiß ist das Wesen der Diplomatie, und wer, wie Hitler oder andere Diktatoren, „kompromißlos“ denkt und handelt, verzichtet überhaupt auf jede Diplomatie und unterwirft sich dadurch selbst der Beschränkung auf Gewaltmethoden, die durchaus nicht immer die Gestalt bewaffneter Konflikte anzunehmen brauchen. Logischerweise nahm daher die Methode der Kompromißlösung im Genfer System einen wesentlichen Platz ein. Auch in der Ratsfrage wurde uns nun ein Kompromiß angeboten.
Briand und Chamberlain erklärten sich bereit, die Frage der ständigen Ratssitze fallen zu lassen und weder für Polen noch für Spanien einen derartigen ständigen Platz am Ratstisch zu beantragen. Als Gegenleistung dafür aber sollte Deutschland schon vor seinem Eintritt seine Zustimmung zur Schaffung eines zusätzlichen nichtständigen Sitzes geben. Den sollte dann allerdings Polen erhalten, wie Briand und Chamberlain ihrem Vorschlag hinzufügten.
Wie alle Besprechungen, in denen Kompromißvorschläge vorgebracht werden, verlief diese Unterhaltung der Locarno-Minister wieder sehr freundschaftlich, fast so wie in den „alten Zeiten“ vor einigen Monaten, vor allem, als der Vorschlag von deutscher Seite nicht abgelehnt wurde, sondern man sich nur Bedenkzeit erbat. Daraus zogen England und Frankreich den Schluß, daß die Situation gerettet sei, und informierten etwas voreilig ihre Journalisten in diesem Sinne. Das konnte man an jenem Tage deutlich in der Bavaria spüren und am nächsten Tage in allen Zeitungen Europas und Amerikas lesen.
Um so schwerer war der Rückschlag, als Luther und Stresemann am Nachmittag desselben Tages in einer kurzen Besprechung mit Briand diesen Vorschlag ablehnten. Stresemann erklärte, daß es sich auch hierbei wieder für Deutschland darum handeln würde, schon vor Eintritt in den Völkerbund an einer Umgestaltung seiner Organisation mitzuwirken, und daß die deutsche Delegation sich hierfür nicht zuständig fühle, sondern lediglich um die Erfüllung des ihr in Locarno gegebenen Versprechens bitte. Maßgebend für die ablehnende Stellungnahme der deutschen Delegierten war der natürliche Wunsch, sich nicht in die, wie wir ja selbst erlebt hatten, unberechenbaren Streitigkeiten zwischen den kleinen und großen Mitgliedern des Völkerbundes hineinziehen zu lassen. Außerdem konnten wir auch nicht gut dem schwedischen Außenminister Undén, der von vornherein aus prinzipiellen Gründen den gleichen Standpunkt vertreten hatte wie das Reich, in den Rücken fallen.
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