Zwei Monate später wurde ich dann zum Militärdienst eingezogen, und meine „Heldenlaufbahn“ begann. Es war im Jahre 1917, und Berlin hatte bereits die ersten Lebensmittelunruhen hinter sich. Es brodelte unter der Oberfläche; wir Berliner Rekruten wurden deshalb zur Ausbildung in möglichst entfernte Gegenden des Reiches geschickt.
Ich kam in den Schwarzwald und wurde dort mit anderen Landsleuten, von denen die meisten noch nie in ihrem Leben ein höheres Gebirge als den Berliner Kreuzberg gesehen hatten, auf der Hornisgrinde und am Mummelsee zum Gebirgskrieger ausgebildet.
Eines Tages bekamen wir, statt der alten blauen, feldgraue Uniformen verpaßt, so daß wir wie richtige „Krieger“ aussahen, wenn man uns nicht allzu genau in die Milchgesichter blickte. Wir wurden … im Straßenkampf ausgebildet! Wir lernten, wie. man Menschenmassen sanft und energisch mit quer vorgehaltenem Gewehr zurückdrängt, wie man sich dieses Gewehr nicht von den roten Sozis entreißen läßt, wie man Straßen absperrt und Geschäfte schützt. Es war eine eigenartige Vorbereitung auf eine „Heldenlaufbahn“. Wir wurden in Mannheim eingesetzt und zwar zum Straßenabsperren gegen revoltierende, hungernde Menschenmassen. Zu Zwischenfallen kam es dabei nicht. Die Mannheimer Arbeiter verulkten uns höchstens wegen unseres jugendlichen Aussehens, begaben sich aber im übrigen auf Aufforderung unserer Offiziere in aller Ruhe auf den Nachhauseweg, so daß wir unsere „ordnungspolizeiliche“ Ausbildungstaktik sehr schnell wieder vergaßen.
Einige Tage später wurden wir dann in den richtigen Krieg geschickt und kamen gerade noch rechtzeitig, um an den großen Offensiven im Frühjahr 1918 teilzunehmen. Als Maschinengewehrschütze kämpfte ich meistens in der „ersten Welle“, wie es damals hieß, gegen Franzosen Engländer, Amerikaner und … Portugiesen, die an einer Frontstelle, welche von den Alliierten für ruhig gehalten wurde, den Hauptstoß der Märzoffensive von 1918 über sich ergehen lassen mußten.
Am 15. Juli 1918 erlebte ich dann zum ersten Male unmittelbar einen Wendepunkt der Geschichte. Er bildete das erste Glied in der Kette jener geschichtlichen Ereignisse, an denen ich in meiner späteren Laufbahn als Angehöriger des Auswärtigen Amtes genau so aus allernächster Nähe teilnahm wie hier als Gefreiter mit dem Maschinengewehr. An jenem Tage begann nämlich die Gegenoffensive von Foch, die das Schicksal der deutschen Armeen im Ersten Weltkrieg besiegelte.
Als die deutsche Offensive anlief und meine Kompanie auch diesmal wieder in der ersten Welle weit auseinandergezogen hinter dem Feuerschleier der Artillerie durch die Trichterfelder bei Reims vorwärtsstürmte, fiel uns sofort die unheimliche Stille auf der Gegenseite und das lautlose Zurückweichen der uns gegenüberliegenden Franzosen auf. Wir hatten deutlich das Gefühl, daß wir irgendwie ins Leere stießen. Das Ratsel sollte sich in wenigen Stunden aufklären, als Foch mit seiner Reservearmee überraschend zum Gegenstoß ansetzte und uns in dem kritischen Augenblick der eigenen Vorwärtsbewegung durch diesen zeitlich sehr gut überlegten Gegenschlag völlig in Verwirrung brachte.
Als einfacher Soldat wußte ich an jenem Morgen, als ich bei Reims in den Granatlöchern saß, nichts von der entscheidenden Tragweite des Augenblicks. Ich hätte mir nicht träumen lassen, daß ich danach immer wieder in ähnlicher Weise an dem wechselvollen Schicksal Deutschlands und Europas unmittelbar persönlich beteiligt sein würde. Ich sollte in späteren Jahren auf den diplomatischen und politischen Schlachtfeldern Europas den allmählichen Aufstieg Deutschlands bis zu seiner größten Machtentfaltung aus nächster Nähe miterleben und das Rad der Geschichte jene volle Drehung vollziehen sehen, die fast ein Vierteljahrhundert später, auch wieder bei Reims, die bedingungslose Kapitulation des Dritten Reiches zur Tatsache werden ließ.
Noch weniger ahnte ich als überzähliger Gefreiter, daß ich eines Tages mit dem geistigen Führer der Alliierten des Ersten Weltkrieges, dem englischen Premierminister Lloyd George, im Jahre 1936 auf dem Obersalzberg persönlich über diese Tage eingehend sprechen und ihm meine Fronterlebnisse schildern würde.
Ebensowenig hätte ich mir träumen lassen, daß ich zweiundzwanzig ſahre später in dem gleichen historischen Speisewagen, in welchem der Waffenstillstand 1918 im Walde von Compiègne abgeschlossen wurde, an demselben Ort einer französischen Delegation zur Unterzeichnung eines anderen Waffenstillstandes gegenübersitzen würde. Ich wußte noch nichts von Locarno und dem Völkerbund, von den Gesprächen zwischen Briand und Stresemann, von den hoffnungsvollen Bemühungen um den Frieden in Europa, an denen ich als Dolmetscher in den 20er Jahren beteiligt sein würde, nichts von Reparationen und Weltwirtschaftskonferenzen, von Brüning und MacDonald, von Hitler und Chamberlain. Damals bei Reims im Jahre 1918 war ich nur froh, daß wir uns mit knapper Not von den vordringenden Alliierten absetzen und einen, an modernen Verhältnissen gemessen, ordnungsmäßigen Rückzug antreten konnten.
Ich wurde dann während der Argonnen-Offensive noch verwundet, als ich, wegen meiner englischen Sprachkenntnisse auf Horchposten verwendet, nachts in den amerikanischen Stellungen saß.
In den Wirren der deutschen Revolution kam ich nach Berlin, erlebte als Verwundeter mit Krückstock die Spartakuskämpfe in der Friedrichstraße und die Front, die sich damals – wie heute – quer durch Berlin zog und den kommunistischen Osten vom antikommunistischen Westen trennte.
Als Kriegsteilnehmer, Verwundeter und Träger des Eisernen Kreuzes genoß ich bei meinem anschließenden Studium der neueren Sprachen mancherlei Vorteile, kam mit vielen Engländern und Amerikanern, die während der Inflation Deutschland bevölkerten, in enge und freundschaftliche Berührung, arbeitete als Student für eine amerikanische Zeitungsagentur in Berlin und kam dadurch zum ersten Male mit der internationalen Politik, und zwar auf sehr intensive amerikanische Weise, in Berührung.
Um diese Zeit, nach der Konferenz von Genua im Jahre 1921, veranstaltete das Auswärtige Amt besondere Kurse zur Ausbildung, von Konferenzdolmetschern. Etwas Derartiges hatte es bisher noch nicht gegeben, da ja in früheren Zeiten der diplomatische Verkehr meist durch Berufsdiplomaten wahrgenommen wurde; diese beherrschten selbstverständlich die französische Sprache, welche vor dem Ersten Weltkrieg allgemein als Diplomatensprache galt. Nach 1918 änderten sich jedoch diese Verhältnisse grundlegend. Die „Geheimdiplomatie“, die man als Hauptursache des Krieges ansah, sollte aufhören. Man verhandelte weniger auf diplomatischem Wege als vielmehr auf großen internationalen Konferenzen. Die einzelnen Länder wurden dabei meist nicht durch Botschafter vertreten, sondern durch die Staatsmänner, die Ministerpräsidenten und Außenminister selbst, da man annahm, daß der direkte, persönliche Kontakt schneller zum Ziele führen würde als die alten Methoden. Diese neuen Repräsentanten der Nationen beherrschten aber fremde Sprachen meistens nur unvollkommen, und so entstand ein ganz neuer Beruf.
Der Dolmetscher, der auf solchen Konferenzen die Reden und Gespräche der Staatsmänner übersetzte, verdankt seine Rolle in der internationalen Politik dieser Demokratisierung der politischen Verhandlungsmethoden. Er nahm notwendigerweise an allem, auch an den geheimsten Zwiesprachen unter vier Augen – die so oft zu Aussprachen unter sechs Augen wurden – teil. Es wurde von ihm erwartet, daß er möglichst unauffällig arbeitete und nicht etwa durch häufiges Dazwischenübersetzen die Atmosphäre der Vertraulichkeit oder den Fluß der Rede bei großen Anlässen unterbrach. Daraus entstand die neue Übersetzungstechnik der Übertragung ganzer Reden oder großer Gesprächsabschnitte in einem Zuge. Auf diese Weise trat der Dolmetscher als störendes Element so gut wie gar nicht mehr in Erscheinung. Er verlängerte natürlich die Zeit, die zur Abwicklung eines Verhandlungsprogramms notwendig war. Dafür aber bot seine Arbeit den Vorteil, daß sich die Verhandlungspartner während seiner Übersetzungen die Fragen und Antworten noch einmal in aller Ruhe durch den Kopf gehen lassen konnten.
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