Solche Offenheit hat der mecklenburgisch Verschlossene zeitlebens eigentlich nur gegenüber der »Eule« geübt. Auch sie mußte er verlassen, als er sein Land hinter sich ließ. Wie hatte er doch geschrieben, sie zu bitten, seine nachgelassenen Möbel aus Güstrow abzuholen: »die Lampe, den Sessel, das Bettzeug, und den Krug unter dem kleinen Tisch, denn er war mir teuer, ich entbehre [...]«?
Selbst als er die DDR bereits hinter sich gelassen hatte, kümmerte sich Uwe Johnson um die alt gewordene Dame Hensan, aufopferungsvoll in seiner gewissenhaften Art und mit beeindruckender Zartheit. Nach 1959 ließ er den Hensans die noch ausstehenden Honorare aus seiner Israel Potter-Übersetzung überweisen. Betagt genug, den »Arbeiter- und Bauernstaat« vorübergehend verlassen zu dürfen, besuchte die »Eule« später die Familie Johnson in Berlin. Johnson sandte der Rostocker Familie neben Büchern zahlreiche Kunstkalender, vorzugsweise solche mit mecklenburgischen Motiven, und viele, viele Flaschen Underberg. Nach dem Wegzug der Johnsons aus Berlin um die Mitte der siebziger Jahre sah man sich noch seltener als zuvor, und wenn, dann lediglich in Rostock. So blieb am Ende nur die Post, und es entstand ein ausgedehnter Briefwechsel. Johnson wünschte sich stets Informationen über den Tageslauf der Familie. Verstärkt galt dies, nachdem die »Eule« infolge einer Embolie im rechten Arm am 16. Februar 1982 einen Schlaganfall erlitten hatte.
Der Schriftsteller gab sich über die Jahre hinweg außerordentlich Mühe mit dem Aussuchen der diversen Geschenke für die Hensans, berücksichtigte dabei die Aspekte der Brauchbarkeit ebenso wie die der Vergnüglichkeit. Noch am 16. Juli 1982 bereicherte der Güstrower den Haushalt der Hensans mit einer Hausleiter. Deren Erwerb im feuchtheißen Frankfurt erschien ihm eigener Schilderung wert. Nicht nur, daß er anläßlich dieses schweißtreibenden Aktes die habituellen Schwierigkeiten des Vielreisenden, seine obligaten schwarzen Hemden in den fast immer zu kleinen Waschbecken der Pensionen und Hotels zu waschen, in exzellenter Buchprosa voller Schalk und Ironie geschildert hat. Das gute Stück kostete seinerzeit DM 51,50. Wurde erworben im hochsommerlichen Frankfurt im Fachgeschäft für Einbauküchen und Haushaltsgeräte Anton Hartmann und Sohn in der Neuen Kräme Nr. 30. Im Keller dieses Geschäftes, an einem »feuchthitzigen Tag«, brachte ein Autor zwanzig sehr erhitzte Minuten mit der sorgfältigen Auswahl einer »handlichen Leiter« zu. »Ich hatte danach Veranlassung, mich umzuziehen, so auffällig weissliche Salzspuren hatte der Schweiss in dem von mir beliebten schwarzen Hemd deponiert«, so Johnson im Brief vom 16. Juli 1982 – ein Schreiben, in dem er sich denn doch ein »Verdienstchen« für seine tropische Beschaffungsaktion in dem »Frankfurter Handelshaus« anrechnen wollte. Anderes mußte seinen Weg in die »Demokratische Republik« über den Geschenkdienst »Jauerfurt AG« nehmen. Nicht alles daran war der DDR genehm. So mußte der Schriftsteller, noch kurz vor seinem Tod, am 26. Januar 1984, Dorothy Hensan mitteilen, daß sein Versuch, ihnen die nun kompletten Jahrestage zugänglich zu machen, an der »Ziffer 111 der Liste der verbotenen Gegenstände« gescheitert sei.
Johnsons Beziehung zu Alice Hensan war am Ende so von Fürsorge bestimmt, daß er vom Scheitern seiner Ehe der »Eule« niemals ausdrücklich berichtet. Nur ganz indirekt, in einem langen Brief vom 5. Dezember 1979, der an die Tochter ging und im Postskriptum Zweifel anmeldet, ob der Brief auch der »Eule« zumutbar sei, deutete Johnson die private Katastrophe an, indem er die Geschichte des Gastes George im »Seaview«, einem Pub und Hotel in Sheerness in der Nähe von Johnsons Haus, erzählte, wo der Wahlengländer selbst gern sein abendliches Bier trank. George bekommt dort ebenfalls seinen abendlichen »Gerstenwein«. Muß bei dieser Gelegenheit allerdings zusehen, wie seine Mildred, sie hat ihn verlassen, mit ihrem neuen Freund tanzt, sich in den Arm eines – selbst George muß das zugestehen – recht ansehnlichen und fürsorglichen Mannes schmiegt. George zählte 53 Jahre. Er sagte zu »Charles«, so hieß Johnson bei den Kneipengängern in Sheerness, nun sei er diesem um eine Ära voraus. Man müsse den Tatsachen ins Auge sehen. Mithin auch der, daß man nach ganzen 26 Jahren die Frau verlieren könne. Dennoch wolle er nicht von der Themse-Insel herunter, obwohl ihm seine Tochter einen Job in Southampton besorgt habe.
Dieser Bericht der »George-Geschichte« war das Äußerste an Direktheit, was Uwe Johnson den Hensans bezüglich seiner Ehekrise zumuten mochte.
Eine weitere Andeutung war allenfalls noch einem Brief zu entnehmen, mit dem der Einsame, der seine Einsamkeit in den Jahren nach 1978 gegenüber den Hensans nie direkt benannt hatte, über die Feier seines Geburtstages berichtet: Das sei nun das erste Mal seit zwei Jahrzehnten, daß er diesen wieder gefeiert habe. Zu
diesem Zweck flog ich in einem Luftkissenboot nach Boulogne-surmer, um dort in einer Nebenstrasse in einem etwas schmutzigen Zimmer zwei Lammkoteletts zu verzehren, mit ungemein reichlicher Knoblauch-Creme.
Dreierlei Geschenke habe ihm dieser Tag eingebracht: das Glückwunschtelegramm der Hensans; ein mitgehörtes amüsantes Familien-Gespräch am Nebentisch; und »die wiederholte Genugtuung, dass Hitlers Invasionsboote scheiterten an einer Strecke, für die ein englisches 45 Minuten braucht«.
Der Rostocker Familie konnte er weiterhin mitteilen, wofür sonst die eigene Familie den Adressaten abgibt: daß er, ebenfalls 1981, befürchtete, an Krebs erkrankt zu sein, was aber eine ärztliche Untersuchung entkräftete. Auch von notwendigen Reparaturen am Hausdach 1980 und der Entfernung einer sich ebenfalls als ungefährlich erweisenden Zyste aus seinem Arm im November 1979, vorgenommen im »Royal Marshden Hospital« in London, finden sich Mitteilungen an die Familie Hensan. Sogar Briefwechsel mit Manfred Bierwisch – etwa im Jahr 1978 – nahmen ihren Weg über die Hensans. Vor allem aber sandte er viele fingierte Dialoge aus seinem Stammpub »Napiers« an die »Eule«. Vom 21. November 1978 stammt folgende Szene voll dramatisierter Lakonik:
Bitte, vergegenwärtigt Euch die folgenden Verhältnisse und Vorgänge: Szene, aussen: eingeregnete Strasse, im Winde wankendes Wirtshausschild. Mann, durchnässt, betritt das Gebäude. Szene innen: Wirtsstube, Wirt, Mann eintretend. Wirt: »Rather wet out there, I presume«. Gast: »Must have something to do with the weather, I think«. Zuschauer (Bricht in Tränen aus). So viel von der hiesigen Diskretion und vom vorhandenen Wetter.
In dieser Umgebung, das Gasthaus als Ersatz familiären Zuhauses, spielten dann auch die zahlreichen Dialoge zwischen Charles I (Johnson), Charles II (ein Kneipen-Freund) und Charles III (dessen Kanarienvogel), die Johnson für die Hensans erfand.
Nach seiner Übersiedlung nach England hat Uwe Johnson die Hensans wohl nur noch zweimal gesehen. Gewiß hat er sie besucht, als er sich im Jahr 1978 vom 14. bis zum 17. Juni in der DDR aufhielt. Und er hat sie am 17. und 18. August ein letztes Mal besucht, als er mit einer englischen Reisegesellschaft und englischem Guide Mecklenburg und Rostock besuchte. Da freilich nicht, wie die Fama es will, als ein englischer Staatsbürger, sondern durchaus als der Bundesdeutsche mit der Paßnummer: D 8 085 509, der er lebenslang geblieben ist.
DAS »WALDGESICHT« ALS INGRID.
UWE JOHNSONS ERSTE LIEBE
Uwe Johnson kannte die junge Dame, die für die Ingrid in seinem Erstling, wenn auch eher unfreiwillig, Modell gestanden hat, seit dem Spätsommer des Jahres 1952. Beide studierten sie Germanistik an der Rostocker Universität. Bereits in einem Brief vom 30. August 1952 meldete der Student seine Verliebtheit der ehemaligen Recknitzer Lehrerin Charlotte Luthe. Dort finden sich die folgenden Zeilen:
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