Er war gerade dabei, ein altes Magazin durchzublättern, als unten im Keller klirrend eine Glasscheibe zerbrach. Aufgeregt fuhr er in die Höhe. Holz splitterte, irgendetwas Großes wurde aus der Wand gerissen. Sofort rannte er zur Treppe und lauschte angespannt. Sein Herz klopfte bis zum Anschlag. Zunächst war nur Stille. Nichts rührte sich. Doch dann stapfte etwas Schweres über den Boden, Glas knirschte. Ein mechanisches Schnaufen ähnlich dem eines Beatmungsgerätes setzte ein. Die Luft wurde krampfhaft aufgesogen und über ein Ventil zischend wieder abgelassen. Etwas unsagbar Böses strömte wie eine scheußliche Ausdünstung von nahezu stofflicher Beschaffenheit die Treppenstufen empor.
»Fuck!«, hauchte Jakob. Die nackte Angst legte sich wie eine Würgeschlange um seine Eingeweide. Einer der tollwütigen Seemänner war in die Kurklinik eingedrungen. Das war neu! Damals hatten die Kreaturen keinen Schritt in das Sanatorium gemacht. Ein polterndes Geräusch drang an sein Ohr. Der tollwütige Seemann stieß irgendein Hindernis – vermutlich einen umgefallener Schrank – aus dem Weg und bahnte sich seinen Weg zur Treppe.
Verzweifelt suchte Jakob nach einem Ausweg. Zurück konnte er nicht, denn dann würde er direkt in die Arme des Unwesens laufen. Der einzige Fluchtweg war ein weiterer Gang, der sich neben dem Aquarium befand. Jakob hatte keine Ahnung, wohin dieser Weg führte. Das gesamte Gebäude war ein verschachtelter und verwinkelter Komplex, ein irrwitziges Labyrinth auf mehreren Ebenen. Der Junge hoffte inständig, dass der Flur ihn nicht in eine Sackgasse führen würde. Denn dann wäre er dem tollwütigen Seemann ausgeliefert. Und es gab niemanden, der ihn davor schützen könnte.
Die mit Graffiti beschmierten Wände flogen an ihm vorbei. Jemand hatte einen Stapel Bücher in einem heillosen Durcheinander auf dem Boden verteilt. Jakob stolperte über ein altes Telefonbuch und wäre um ein Haar mit dem Kopf an eine Glastür geknallt. Im letzten Moment fing er sich wieder, öffnete die Tür und rannte weiter. Am Ende des Gangs befand sich eine Treppe, die nach unten führte. Die Stufen waren mit Schutt und Geröll übersät. Jakob biss sich auf die Zunge, als er die Stufen hinuntereilte. Das Knirschen seiner Schuhe war laut zu hören.
Die Treppe führte nicht ins Erdgeschoss, sondern in die Kellerräume der Kurklinik. Auf dem Boden lagen nebeneinander aufgereiht mehrere Heizkörper. Jakob lief vorsichtig durch den Raum, weil er Angst hatte, eine der alten Heizungen umzustoßen, was einen Dominoeffekt nach sich gezogen hätte. Eine braun gestrichene Kellertür führte weiter in die Tiefen der Kurklinik. Erleichtert atmete er auf, als er feststellte, dass die Tür nicht verschlossen war, und glitt in den nächsten Raum, der in ewiger Dunkelheit lag. Über ihm erklangen die polternden Schritte des tollwütigen Seemanns. Das Monster war direkt über ihm!
Jakob tastete sich Schritt für Schritt nach vorne. Der Raum war zugemüllt mit allen möglichen Sachen, die sich in der Dunkelheit nur erahnen ließen. Einen Schritt vor den anderen setzend – was gar nicht so einfach war. Ganz langsam materialisierten sich am anderen Ende des Raums aus der Schwärze die Umrisse einer Tür, denn durch die Ritzen und Öffnungen flutete ganz schwach Licht. Jakob tastete nach dem Griff und drückte ihn langsam nach unten.
Der angrenzende Raum war komplett weiß gefliest. An vielen Stellen waren die Fliesen schon abgeplatzt oder mutwillig zerstört. Unterhalb der Decke waren Kellerfenster aus Milchglas eingelassen, die lichtdurchlässig waren. Eine Treppe mit einem rostigen Geländer führte nach oben. Jakob hatte eine ungefähre Ahnung davon, wo er sich gerade befand, denn dieser Raum kam ihm vertraut vor. Hier war er mit Schnute, Roland oder Mehlsack schon einmal gewesen. Wenn er sich nicht täuschte, führte die Treppe über einen Nebeneingang in das alte Hallenbad des Sanatoriums. Und tatsächlich war es so. Ein lang gezogener Flur führte zum einstigen Schwimmbad.
Wenige Augenblicke später stand er vor dem gekachelten Schwimmbecken, das sich wie ein gähnendes Loch in der Mitte der Halle erstreckte. Irgendjemand hatte Stühle, einen Schreibtisch und einen Berg von Aktenordnern in das Becken geworfen. An manchen Stellen hatten sich kleine Pfützen gebildet. Aus dem Augenwinkel sah er mehrere pelzige Schatten über den Boden huschen und in der Müllhalde verschwinden. Der Raum lag in einem Dämmerlicht. Es gab zwar zwei große Fenster, aber die Bäume im Freien standen so dicht nebeneinander, dass sie nur wenig Licht in die Halle ließen.
Das schwerfällige Quietschen der Treppe machte ihn darauf aufmerksam, dass der tollwütige Seemann ihm dicht auf den Fersen war. Er spürte, wie die Angst versuchte ihn zu lähmen. Er hatte das Gefühl, als würden seine Füße Wurzeln schlagen und ihn unweigerlich an den Boden binden. Das Zischen aus dem Helm des Seemanns war nun deutlich zu hören. Jakob erwachte aus seiner Schockstarre und rannte los. Hinter dem Schwimmbecken lagen die Umkleidekabinen und dahinter der eigentliche Eingangsbereich. Er rannte an den stählernen Schränken vorbei, die wie stumme Wächter links und rechts aufgereiht waren.
Seine Kehle schien sich zuzuschnüren, als er den Eingangsbereich erreichte. Ein unüberwindbarer Berg aus Schutt und Geröll erhob sich vor der gläsernen Front des Eingangsportals. Teile der Decke waren eingestürzt. Kabelstränge hingen wie die Eingeweide eines toten Tieres von der Decke.
»Oh verdammt!«, fluchte Jakob und musste bitter erkennen, dass er wie ein Tier gefangen war. Die eingestürzte Decke mit dem Schuttberg war neu. Zu seiner Zeit hatte man das Schwimmbad durch die Eingangspforte betreten können. Wieso muss hier alles anders sein! Ich hasse dich, Leonhard! , dachte er und war drauf und dran aufzugeben.
Der Mann mit dem weißen Gewand hatte viele Namen. Über die Jahrtausende hatte er unzählige Identitäten angenommen. Als direkter Abkömmling des Uranos und der Gaia war ihm das ewige Leben zuteilgeworden. Er hatte viele Leben gelebt. Manche Leben waren bedeutungslos und nicht mehr als eine diffuse Momentaufnahme in den hintersten Winkeln seines Gedächtnisses. Doch dann gab es Leben, die so schicksalsträchtig und bedeutungsvoll waren, dass er sie nie vergessen würde. Sie waren fest verwurzelt mit seinem eigenen Ich. Egal, welche Identität er annähme: Diese Leben würde er nicht vergessen. Die Erinnerungen würden nie verblassen. Im Angesicht der Ewigkeit kam dies einem unerbittlichen Fluch gleich. Es sei denn, man konnte die Ewigkeit austricksen …
Der Mann, der sich früher Leonhard Hoyer genannt hatte und über die Jahre hinweg als der Primus aufgetreten war, blickte über die Brüstung seines Palastes. Sein wirklicher Name war Epimetheus, doch dieser weckte keine guten Erinnerungen in ihm.
Der Himmel war wolkenklar. Die Sonne hing als goldene Scheibe über dem Meer und war am heutigen Tag von einer angenehmen Wärme. Warm, aber nicht heiß.
Sein langes pechschwarzes Haar hatte er zu einem Zopf zusammengebunden, das seine asketischen Gesichtszüge noch stärker betonte. Die blauen Augen waren von solch leuchtender Intensität, dass man den Eindruck haben konnte, man blicke in die Abgründe der Seele.
Unten am Strand wiegten sich die Palmen anmutig im Wind. Durch die Nähe zur Küste wehte hier oben immer ein angenehmer Wind, der den Geruch des Meeres mit sich trug. Wenn man sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, konnte man das Salz schmecken.
»Das Frühstück ist angerichtet, werter Herr!«, erklang eine vertraute Stimme. Epimetheus drehte sich um und gewahrte einen buckligen Kauz, der die Toga eines Bediensteten trug. Der Alte hielt zu seinem Herrn einen respektvollen Abstand. Seine schlohweißen Haare zeugten von einem langen Leben, ebenso die zahlreichen Altersflecken, die sein Gesicht bedeckten. Die gekrümmte, ausgemergelte Gestalt ließ ihn dem Tod näher als dem Leben stehen. Epimetheus überlegte, ob es nicht an der Zeit war, seinen Diener Stratos gehen zu lassen. Über die Jahrtausende war Stratos ein treuer Diener gewesen. Er hatte unzählige Male das Leben dieses Mannes verlängert. Doch Stratos war ein Mensch. Irgendwann kam der Zeitpunkt, wo der menschliche Körper sich nicht mehr austricksen ließ. Epimetheus nahm den süßlichen Geruch des Zerfalls wahr, den sein Diener ausströmte. Während seiner Gefangenschaft war es ihm nicht möglich gewesen, die zelluläre Struktur des Greises aufzufrischen. Er würde um Stratos trauern – nicht so, wie er um Pandora getrauert hatte (oder noch trauerte), denn Stratos war nur ein Mensch, aber es würde ihn trotzdem berühren.
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