»Hast du etwas bezüglich der Causa Donald Eldritch herausfinden können?«
Der Greis schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, nein. Meine Häscher vermuten ihn auf der Insel Rhodos, aber es sind nur Gerüchte, denen wir nachjagen. Dieser Mann ist in der Tat ein Geist!«
»Verdopple … nein, verdreifache deine Anstrengungen! Ich will diesen Mann haben! Koste es, was es wolle!«
»Jawohl, mein Herr!« Der Alte deutete eine Verneigung an, wobei seine Knochen hörbar knackten.
»Und noch etwas Stratos …«
»Ja?«
»Es ist schön, dich wieder bei mir zu haben!«, sagte Epimetheus.
»Es ist mir eine Ehre, Euch wieder dienen zu können. Die Zeit im Olymp war ohne Euch sehr … freudlos.«
»Ich komme gleich frühstücken!« Epimetheus wandte sich ab und blickte wieder von den Zinnen hinab. Er hatte dieses Taschenuniversum nach seinen Vorstellungen geschaffen. Ein unberührter Fleck Natur, der die Seele in Schwingung versetzte. In menschlichen Dimensionen gedacht, ein wahres Paradies. Und doch fehlte ihm Pandora zum absoluten Glück. Das Paradies ist nichts, wenn die wahre Liebe fehlt! Sie war sein Seelenpartner gewesen. Er lächelte grimmig, als er daran dachte, wie er den Olymp zerstört hatte. Es hatte einer Black Box bedurft, um den Olymp in Flammen zu stecken. Die tollwütigen Seemänner hatten alles Leben ausgelöscht. Seine Brüder und Schwester waren geflüchtet – nicht einmal sie konnten die Boten der Zerstörung aufhalten. Wahrscheinlich waren sie in ihre eigenen Taschenuniversen geflüchtet. Er würde sie aufspüren! Jetzt nicht, aber irgendwann. Er hatte gehofft, dass ihn seine Rache vergessen lassen würde. Doch dem war nicht so. Jetzt, wo der Hass weg war, blieb die Trauer zurück und erinnerte ihn stärker denn je an seinen Verlust.
Er trat von den Zinnen und betrat seine Räumlichkeiten durch die breit geschwungenen Flügel der Balkontür. Er hätte sich auch teleportieren können, doch er genoss das Laufen durch die Gänge des Palastes. Damals, als Pandora noch lebte, hatten sie darüber gesprochen, sich in ein solches Anwesen – weit weg vom Olymp – zurückzuziehen und eine Familie zu gründen. Sie hatte sich so sehr eine Tochter gewünscht: Pyrrha sollte der Name des Kindes sein. Doch mit dem Ende des goldenen Zeitalters war ihnen alles genommen worden. Pandora hatte ihm Visionen von diesem Ort gezeigt. Der Palast sollte einmal genauso aussehen. Ihrem Andenken zuliebe hatte er das Bauwerk nach ihren Wünschen geschaffen. Pandora und das ungeborene Leben in ihrem Schoß hätten es geliebt.
Die Tafel war beladen mit Köstlichkeiten aus aller Herren Länder: Es gab Honigkuchen, verschiedene Joghurtsorten mit Haferflocken, warmes Brot, herzhaften Schinken bis hin zu feiner Mortadella, Pfannkuchen mit Sirup … Es war eine Reminiszenz an seine Zeit in der Zwischenwelt. Mithilfe seiner Gedanken konnte er jegliche Speise vor sich manifestieren lassen. Es gab in den Küchen des Palastes einen Raum, der immer voller Lebensmittel war. Egal, was man benötigte, in der Vorratskammer war es stets vorhanden. Stratos hatte ein Festmahl aufgetischt.
Gedankenversunken nahm er am Kopf der Tafel Platz und begann, an einem Stück Honigkuchen zu knabbern. Er verspürte keinen Hunger an diesem Tag.
Epimetheus dachte an den Mann namens Donald Eldritch. Egal, in welcher Welt er sich versteckte, er würde ihn finden. Doch die Suche war bislang im wahrsten Sinne des Wortes im Sand verlaufen. Der Mann blieb ein Phantom. Er hatte Männer ausgeschickt, um ihn zu finden, doch niemand hatte den Aufenthaltsort von Eldritch in Erfahrung bringen können. Ein einziger Mann – war so schwer zu finden. Die berühmtberüchtigte Nadel im Heuhaufen.
In diesem Moment trat Stratos noch einmal an die Tafel seines Herrn. Furchen standen auf seiner Stirn. »Ich störe Euch nur ungern, aber wir haben Kunde, dass die Welt, auf die Ihr den Jungen geschickt habt, instabil geworden ist«, berichtete er mit gefurchter Stirn.
»Ich habe es fast befürchtet, Stratos.«
»Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die tollwütigen Seemänner alles vernichten werden.«
»Du sorgst dich um das Leben des Jungen? Jakob Großmüller?«, fragte Epimetheus irritiert. »Er ist ein Mensch! Ein Werkzeug! Er hat seinen Zweck erfüllt.«
»Ein Werkzeug, das Ihr vielleicht noch gebrauchen könnt …«, sagte der Alte und verschränkte seine Arme hinter dem Rücken.
»Inwiefern?«
»Bedenkt eins: Wie viele Leute habt Ihr in der Zeit Eurer Gefangenschaft in die Stadt der Nacht geschickt? Tausende? Hunderttausende? Sie sind alle gescheitert! Niemand hat die Steuerkarte bergen können.«
Epimetheus schwieg nachdenklich. Er wusste, worauf sein Diener hinauswollte.
»Dieser Junge hat Euch die Karte beschafft. Er ist als Einziger aus der dunklen Stadt zurückgekommen.«
»Du findest, ich sollte ihn retten?«
»Ihr solltet ihn als Werkzeug einsetzen.«
»Was geht dir durch den Kopf, Stratos?«, wollte Epimetheus wissen und legte Gabel und Messer zur Seite.
»Ich bin alt, Herr. Ihr wisst besser als ich, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt. Der Tod lässt sich nicht mehr lange austricksen!«
»Mach dir um Thanatos keine Sorgen, Stratos.«
»Meine Zeit ist gekommen. Ich habe länger gelebt als alle anderen Menschen. Es war ein gesegnetes Leben. Ich bin stolz, Euch über die Jahrtausende hinweg gedient zu haben. Doch es ist an der Zeit, meine letzte große Reise anzutreten. Nehmt den Jungen in Eure Dienste und bildet ihn aus.«
»Der Junge soll dein Nachfolger werden?«
Der Greis nickte. »Wenn Ihr den Jungen retten wollt, dann müsst Ihr Euch beeilen. Die tollwütigen Seemänner sind bereits eingetroffen.«
Epimetheus blickte Stratos an und sein Gesicht war für einen kurzen Moment voller Trauer. Dann schnipste er mit dem Finger. Sein Körper flimmerte kurz und war im nächsten Augenblick spurlos verschwunden. Stratos ging zu dem leeren Platz und begann, die Tafel abzudecken. Es würde dauern, bis sein Herr zurückkäme.
Es war eine gewaltige Herde, die nach Kansas zu den Verladebahnhöfen aufbrach. Die Herde füllte fast die gesamte Ebene aus. Sie war so groß, dass man nur auf einer großen Anhöhe die Tiere überblicken konnte. Es waren fast siebzig Maverickjäger notwendig, um solch eine Herde zu führen. Nur eine kleine Notbesatzung sowie Stella Slater waren auf der Blue-Lodge-Ranch zurückgeblieben. Dreißig Mann hatte Jeremy Slater zusätzlich von benachbarten Farmen angeheuert. Wenn sie die Verladebahnhöfe erreichten, dann wäre der Besitzer der Blue-Lodge-Ranch einer der reichsten Männer auf dem Kontinent. Er hatte die Zeichen der Zeit erkannt und auf das richtige Pferd gesetzt. Angetrieben wurde die Herde von mehreren mächtigen Leittieren. Es waren Longhorns, denen die Tiere besonders willig folgten. Mit ihren gewaltigen Schädeln und langen Hörnern führten sie die Herde voran. Slaters Longhorns waren fast so groß wie ein ausgewachsener Büffel. Man musste höllisch aufpassen, dass die Tiere nicht in eine Stampede versetzt wurden.
Der Cowboy ritt mit seinen Gefährten neben der Herde, immer darauf bedacht, dass keines der Tiere ausbrach. Die Reittiere waren gut ausgebildete Rinderpferde, mit denen man die harte Herden- und Lassoarbeit verrichten konnte. Die Tiere waren an Rinder gewöhnt und würden auch nicht vor einem wilden Stier zurückweichen. Die Zeit verging wie im Flug. Das Treiben war harte Arbeit und erforderte viel Aufmerksamkeit und Fingerspitzengefühl. Man musste förmlich eins werden mit der großen Herde.
Sie machten auf ihrem Weg nach Kansas nur wenig Halt. Es zog Jeremy Slater wie ein Magnet, der sein passendes Gegenstück sucht, in die Großstadt. Er wollte unbedingt das Geschäft seines Lebens machen. Beim Mittagessen trafen er und der Cowboy kurz aufeinander – mit siebzig Mann konnte man schon fast von einem eigenen Heereslager sprechen.
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