Es entspricht somit vollkommen der Logik der Freimaurer, die Mitglieder der Kirche mit den Mördern Hirams gleichzusetzen oder zumindest zu Mittätern zu erklären. Hiram ist der Großmeister aller Freimaurer und Wahrer der letzten Geheimnisse. Er wurde von drei ehrgeizigen und neidischen Gesellen ermordet, die diese Geheimnisse in ihren Besitz bringen wollten, ohne die Voraussetzungen für ihre Initiation erfüllt zu haben. Dem altgedienten Hochgradfreimaurer fiel es übrigens nicht weiter schwer, mir zu beweisen, dass die Kirche bildungs- und fortschrittsfeindlich sei. In die Argumentation meines Bruders aus den Hochgraden, deren Subjektivität ich damals noch nicht durchschaut hatte, reihte sich ein antiklerikaler Gemeinplatz an den anderen: die Inquisition, die Borgia-Päpste und ihre Intrigen, der Prozess gegen Galileo, die Leugnung der Jungfräulichkeit Mariens und sogar der Gottheit und der Auferstehung Christi.
In den Augen der Freimaurerei will die Kirche nur eines: den Meisterfreimaurer Hiram töten, der in allen Eingeweihten wiedergeboren wird.
Die katholische Kirche, die die Freimaurerei seit deren Entstehung im 18. Jahrhundert bekämpfe, stemme sich der Emanzipation der Menschheit entgegen, erklärte mir mein Bruder . Sie lasse sich, genau wie die drei mörderischen Gesellen, von Dogmatismus, Fanatismus und Ehrgeiz leiten. Damals – das muss ich heute mit Bedauern und nicht ohne Scham zugeben – erschien mir diese freimaurerische Theorie hinreichend plausibel. Auch wenn ich weiß, dass der Herr mir diese Verirrung vergeben hat, weil ich sie »unter Einflussnahme« begangen und vor allem weil ich sie nach meiner Bekehrung aufrichtig bereut habe, muss ich bekennen, dass ich in meiner Verzweiflung Tränen vergossen habe, als ich meine Verblendung mehrere Jahre später beichtete. Ich war wie Petrus, der Christus verleugnet hatte: »Und er ging hinaus und weinte bitterlich« (Mt 26,75).
Von Grund auf eine Doppelmoral
In den Augen der Freimauerei, die lehrt, dass der Mikrokosmos identisch mit dem Makrokosmos ist, ist das Universum dual. Folglich ist auch im Menschen alles dual angelegt.
Als Freimaurer hatte ich kein anderes Bezugssystem als das, welches die institutionelle Freimaurerei vertrat: Nichts ist ganz und gar böse, nichts ist vollkommen gut, jeder entscheidet letztlich selbst über seine moralischen Kriterien, die initiatische Utopie gibt den einzigen Rahmen vor. In vielen Werkstücken wird überdies die These vertreten, dass das schwarz-weiße Fliesenmuster nicht nur die Dualität symbolisiere, sondern – ein Anklang an das Yin und Yang der fernöstlichen Kosmologie – die schwarzen Kacheln Weiß und die weißen Kacheln Schwarz enthalten. Was in der Farbenlehre zutreffen mag, ist in der Theologie wohl eher fragwürdig! Die Freimaurerei vertritt demnach die Auffassung, dass ihre Eingeweihten Gutes tun, auch wenn sie sich ein bisschen böse verhalten, und dass sie Böses tun können, damit etwas Gutes daraus entsteht. Das ist sehr weit von der moralischen Strenge eines heiligen Paulus entfernt, der den Christen an das einzig Gute gemahnt: »Die Liebe sei ohne Heuchelei. Verabscheut das Böse, haltet fest am Guten!« (Röm 12,9).
Konkret führt diese relative Moral zu Ausschweifungen, für die die Wollust ein perfektes Beispiel ist. Im Hinblick auf die Sexualität lehrt der heilige Paulus: »Alles ist mir erlaubt – aber nicht alles nützt mir. Alles ist mir erlaubt – aber nichts soll Macht haben über mich« (1 Kor 6,12). Dagegen ist die Moral im freimaurerischen Sinne, wie ich bezeugen kann, lediglich das Ergebnis eines »Sozialvertrages« und ihre Grenzen sind letztlich von einem menschlichen Konsens abhängig, der keinem Gott Rechenschaft schuldet: »Der ehemalige Senator Caillavet, ein bekannter Freimaurer […] schreibt: ›Es gibt keine universale Moral mit göttlichem Unterbau; die Moral ist im Wesentlichen zufällig und daher veränderlich; sie ist nicht transzendental. Was heute wahr ist, ist vielleicht morgen schon falsch.‹« 35Wenn aber alles relativ und vorläufig ist, dann sind Wollust und Ehebruch keine Sünden mehr. Alles ist erlaubt und die Moral gibt es nicht mehr.
Ein Freimaurer, der immerhin für seine intellektuelle Aufrichtigkeit Anerkennung verdient, hat in einem Werkstück zugegeben, dass die Freimaurerei nicht nur relativistisch ist, sondern den Relativismus geradezu zum Dogma erhebt: »Auch wenn man sagt, dass der Relativismus nicht als Dogma aufgefasst wird, handelt es sich de facto doch um einen relativistischen symbolischen Entwurf; mithin ist der relativierende Charakter einer solchen moralischen und rituellen Gemeinschaft nichts, was man vernachlässigen könnte, sondern erweist sich im Gegenteil als entscheidend.« 36
Nun wird aber gerade im Bereich der Sexualität die Freiheit, wenn sie relativ wird, leicht mit einem ausschweifenden Lebenswandel verwechselt: »Der Ehebruch ist bei ihnen weitverbreitet. Oh, protestieren Sie nicht, meine Brüder , ich könnte sehr viele Fälle nennen; ich könnte Namen von sehr erlauchten Brüdern 37nennen. In den Vorräumen werden oft sehr anzügliche Reden geführt; und wenn man am Abend die Große Loge verlässt, geht man nicht auf direktem Weg nach Hause, oder etwa doch, Bruder X und Bruder Y? Und ausgerechnet Sie schreien am lautesten, wenn es darum geht, abscheuliche Verleumdungen über die Priester und die Beichte in Umlauf zu bringen. Heuchler!« 38
In anderen Gesellschaftskreisen zeigt eine Begebenheit, die durch die nationale Presse gegangen ist, wie sehr die Ideologie der Freimaurerei manche ihrer Mitglieder beeinflusst, bis schließlich in einer zügellos hedonistischen Mischung aus Freimaurerei, Sex, Politik und Geschäftemacherei jedwede moralische Barriere fällt: Ich meine die »Carlton«-Affäre, die im Februar 2015 beim Landgericht in Lille ihr gerichtliches Nachspiel hatte. Auch wenn der ehemalige geschäftsführende Direktor des IWF, Dominique Strauss-Kahn, Sohn von Freimaurern und möglicherweise selbst Mitglied einer Loge, 2015 nicht wegen Zuhälterei verurteilt wurde 39, hat er eingeräumt, im Rahmen von Veranstaltungen, die von manchen als »kollektive sexuelle Aktivitäten« 40beschrieben wurden, mit mehreren jungen Frauen Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Knapp die Hälfte der im Zusammenhang mit dieser Affäre angeklagten Personen waren Freimaurer. Und »vier der sechs beschuldigten Freimaurer waren Mitglieder des Großorients von Frankreich«. 41Das Stichwort »Freimaurerei« ist auf jeder Seite dieser »erotisch-intimen« Akten zu finden: »Nach Ansicht der Untersuchungsrichter waren ›Netzwerke aus Freimaurern, Freigeistern und Politikern‹ beteiligt.« 42Und so kam es, dass das Wochenmagazin » Le Point darin den Schatten der Freimaurerei erkannte, Le Figaro von ›schlüpfrigen Brüdern‹ sprach, La Dépêche einen freizügigen, teils freimaurerischen Freundeskreis benannte und in etlichen weiteren Medienkommentaren der Begriff der Freimaurerei auftauchte«. 43
Es geht hier nicht darum, alle Freimaurer als Freigeister oder als sexuell entartet abzustempeln. Ich kann im Gegenteil bezeugen, dass ich Logenmitglieder gekannt habe, die in dieser Hinsicht ohne Fehl und Tadel waren. Doch in der Freimaurerei ist alles relativ und der moralische Relativismus, der aus der freimaurerischen Doxa folgt, führt häufig auf Abwege. Diese Abwege sind die logische Konsequenz einer individualistischen, subjektiven und eigenständigen Betrachtungsweise des Eingeweihten. Wenn jeder Gut und Böse nach seinen eigenen Kriterien definiert, wird der Mensch in moralischer Hinsicht autonom.
Ein Freimaurer des Großorients von Frankreich erläutert in einem seiner Werkstücke – mit dem Titel »Ethik und Moral« –, dass die Freimaurerei amoralisch und dass diese relativistische Auffassung zwangsläufig durch den freimaurerischen Individualismus bedingt ist: »Die Autonomie jedes Einzelnen ist eine zentrale Forderung.« 44
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