Claudia Sammer - Als hätten sie Land betreten

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Die besondere Freundschaft zwischen der jüdischen Veza und der nichtjüdischen Lotti in den 1930er-Jahren ist Ausgangspunkt einer Geschichte über sechs Frauen. Über mehrere Generationen hinweg werden Lebensentwürfe skizziert, die geprägt sind von Abhängigkeit und Selbstständigkeit,
vom Zweifeln und Sich-Finden, vom Glauben an eine höhere Macht und dem Festhalten an der Erinnerung. Erst nach ihrem Tod erfährt Lottis Familie
von Vezas Existenz und der gemeinsamen Zeit, eine Entdeckung, welche die Enkelin dazu ermutigt, neue Wege zu gehen.

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Claudia Sammer Als hätten sie Land betreten Roman Bibliografische - фото 1

Claudia Sammer

Als hätten sie Land betreten

Roman

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche - фото 2

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.

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1. Auflage 2020

© 2020 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Coverillustration: Shutterstock | © DODOMO

Coverhintergrund: Shutterstock | © Abstractor

ISBN 978-3-99200-285-6

eISBN 978-3-99200-286-3

Anmerkung der Autorin

Umwelt- und Artenschutz sind mir ein zentrales Anliegen. Aus diesem Grund werde ich die Hälfte der Einnahmen aus dem Verkauf meiner Bücher als Spende an die Organisation Vier Pfoten und an den WWF Österreich überweisen.

C. S.

Inhalt

Die eine Beziehung

Und immer war es genug

Aber nicht die Nähe

Flatternde Angst

Die Ärmste von uns

Eine unerwartete Betonung

Dass sie es war

Ins Netz gegangen

Die Unschuld der Schuld

Eine Begabung für das Schöne und das Gute

Traumsequenz

Sie dachte größer

Das Springen wird denkbar

Ein unscheinbares Ende

Paralleluniversum

Wir sind kein Augenzwinkern

Wie feinstes Glas

Verzeichnis der Zitate

Die eine Beziehung

Dorothea

[…] achtens du sollst nicht denken, denn es wird für dich gedacht, neuntens du sollst nicht fälschlich schreien! Gib nur, gib immerzu, nimm niemals nichts!

Der Tod war gestern unerwartet gekommen. Aus dem Hinterhalt hatte er sie angefallen, als er das Fischfleisch in Schwester Agnes Hals verkeilte, die nicht schluckend, sondern würgend Brotstück um Brotstück dem Fremdkörper hinterher schob, auf dass dieser sich löse, doch es geriet dort unten nichts in Bewegung, nicht mundwärts und nicht abwärts ließen die Brocken sich treiben, alles steckte. Die ins Leere arbeitende Peristaltik gab auf und Schwester Agnes ergab sich dem unergründlichen Willen des Herrn.

Die Mitschwestern waren in Hilflosigkeit erstarrt, es kam erst Bewegung in sie, als diese aus Schwester Agnes gewichen war. Auch für sie war es schwer zu ertragen, dass eine der ihren so unerwartet und schnell in die Ewigkeit beordert worden war. Man hielt an seiner menschlichen Hülle fest, an diesem Körper, den sie so sorglos behandelten und dennoch sorgsam einhüllten und wegsperrten.

Schwester Agnes Ende war anders gewesen. Sie kannten den einsamen Tod in der Zelle, das geräuschlose Davongleiten, das vom beruhigenden Ritual des letzten Sakraments begleitet wurde. Den Tod, auf den man sich vorbereiten konnte, mit dem man spekulierte und manchmal verhandelte, um sich schließlich seufzend in seine Arme gleiten zu lassen. Die Angst vor dem Sterben jedoch, vor diesem allerletzten Schritt, machte vor den Klostertoren nicht Halt.

Eine seltene Unruhe befiel sie, ihre tägliche Routine drohte zu zerfallen. Sie hasteten durch die Gänge, begannen mit den Vorbereitungen für das Begräbnis und hielten auf halbem Weg inne, als hätten sie den Faden verloren. Als hätte der Todeskampf, der vor aller Augen so banal zwischen Fisch und Brot dahergekommen war, Erinnerungen geweckt, die sich nicht wegsperren ließen.

Schwester Dorothea machte sich Vorwürfe, sie fühlte sich schuldig. Schuldig des Unterlassens einer hilfreichen Handlung, einer rettenden Geste. Wie versteinert war sie neben Schwester Agnes gesessen. Sie hätte sie hochreißen und ihr einen Stoß gegen die Rippen versetzen müssen. Sie hatte nichts unternommen, keine Angst und kein Leid verringert, keine Hand gehalten, keinen Trost gespendet. Nicht einmal Zeit für ein Gebet.

Damals hatte sie gebetet. Hatte das genügt? Sie hatte viele betrauert, Vater und Mutter, ihren Bruder. In Gedanken hatte sie sich mit ihnen verbunden, den Moment des Abschieds teilten sie nicht. Sie wusste nicht, ob ihre Gebete den sterbenden Angehörigen Trost gespendet hatten, sie hatte darauf vertraut, und auf einmal waren da Zweifel. Sie wäre gerne am Sterbebett der Eltern gesessen, hätte ihnen die Hand gehalten und sie teilhaben lassen am Glauben in die unerschütterliche Liebe Gottes. Sie hätte mit ihnen gesprochen und ihnen die Angst genommen. Einzig ihr Beten konnte sie ihren Lieben entgegenschicken oder besser nachschicken, ohne zu wissen, ob es sie erreichte. Darüber durfte man nicht sprechen, über die Fragen wurde das Schweigen gebreitet.

Die Unsicherheit der Mutter hatte sie erst in den letzten Jahren verstanden. Langsam hatten sich Antworten geformt, sie fand sie entlang des Weges in die Innerlichkeit, den sie vor so vielen Jahren angetreten war. Sie hatte begonnen, die Tragödie dieser Frau zu verstehen, die alle Erwartungen in ihre Familie gesetzt hatte und sich dabei versagen sah. Sie war an ihren Ansprüchen gescheitert. Hier die ins Kloster geflüchtete Tochter, deren Lebensentwurf so konträr zu den in sie gesetzten Erwartungen war, dort der schwierige Sohn, der sich mit seinen Aggressionen um Frau und Kind gebracht hatte. Und der Ehemann, der sich ihr, oder sie sich ihm, unwiderruflich entfremdet hatte. Sie hatten nicht mehr zueinander gefunden und nahmen Abschied in gegenseitigem Unverständnis und stillem Vorwurf. Unscheinbare Worte hatten die Liebe zerstört und das Selbstverständnis infrage gestellt. Es war immer die Summe der kleinen Teile, die das große Ganze formte.

Die Liebe zwischen Mann und Frau war Dorothea fremd geblieben, das hatte sie sich eingeredet, daran wollte sie glauben. Als sie jünger gewesen war, hatte sie ihren Körper betrachtet und ihm ihre Aufmerksamkeit geschenkt. Sie hatte davon geträumt, dass zwei Körper zu einem verschmelzen, zu einer Einheit, aber sie hatte den Verlust dieser Erfahrung nicht ernsthaft bedauert. Sie schien ihr unwirklich, hauchdünn und zerbrechlich wie feinstes Glas oder wie Seifenblasen, im Entstehen schon dem Ende geweiht.

Manchmal überkam sie eine leise Sehnsucht, in unbedachten Momenten wurde sie laut. Sie dachte an die unwiederbringlich vergangenen Möglichkeiten, dachte an das Kind, das sie nie empfangen und gestillt hatte, und das sich nie in ihre Arme flüchten würde. Sie wäre wohl eine jener Ehefrauen und Mütter gewesen, die sich im ständigen Bemühen, es den anderen recht zu machen, aufrieben, die zwischen Pflicht und Verantwortung verglühten. Sie machte sich nichts vor, zeichnete nicht das Bild einer trügerischen Harmonie, die scheinbar nur Halt gab. Sie wusste, dass ein Riss genügte, um der Idylle den Boden zu entziehen. Dann musste man alles von sich schieben und sich durchlavieren, dann hatte man sich nichts mehr zu sagen.

Vergangenes und Gegenwärtiges schoben sich übereinander und überblendeten einander. Am Anfang hatte der Raum zwischen Küche, Bett und Bad genügt, klar umrissene Grenzen. Der Anfang lag im Trüben, die Augen suchten vergeblich Halt, bloß ein diffuses Gefühl war greifbar. Sie hatte das normale Leben, jenes Leben, das die Eltern ihr zugedacht hatten, gegen die eine Beziehung getauscht, gegen eine Beziehung, in der das Gebet alle Zweifel niederrang.

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