Tatsächlich mahnte er jetzt zur Besonnenheit, in schweren Zeiten sei es schwer, das Rechte zu tun. Damit war vorläufig alles gesagt.
In der Nacht untermalte das Surren der Nähmaschine ihre Gedanken, doch der Schlaf ließ sich nicht nieder, er zog bloß fahrig über sie hinweg.
Tiefer und tiefer tauchte Veza in die neue Religion. Sie erfasste die Zartheit und Zerbrechlichkeit dieser Seelenwelt, die Farbenpracht ihrer Bilder und die Weisheit dieses im Unendlichen wohnenden Glaubens. Sie erkannte, dass der Teufel die Welt regierte, und eine wilde und innige Frömmigkeit ergriff sie. Sie öffnete sich für neue, geheimnisvolle Erfahrungen, sie betete und befragte Gott, was der Sinn des Lebens sei. War es die auf die äußere Form bedachte Schönheit oder war es die Güte, für die nichts als der Inhalt zählte. Und wie konnte es sein, dass der Mensch ein böses Geschöpf war und doch nicht böse sein wollte. War der Mensch möglicherweise nicht die Krone der Schöpfung sondern eine Missgeburt?
Sie besuchte die katholischen Gottesdienste. In die hinterste Reihe gekauert, ließ sie sich mitreißen vom monotonen Gemurmel der Gläubigen, von Dunkelheit und Mystik, von Transzendenz und Transsubstantiation, von den Mahnungen und von der Aussicht auf eine alles umfassenden Vergebung. Lamm Gottes, nimm hinweg die Sünde der Welt, wandle Brot in Leib und Alleinsein in Gemeinschaft, wandle Wein in Blut und Ängstlichkeit in Zuversicht.
Veza lag weit unten, fast lag sie am Boden, sie erkannte noch einen Halm, und nach dem wollte sie greifen. Sie schaffte Hindernisse aus dem Weg, bereitete den Boden auf und ihre Schritte vor. Schon wurde das Ziel deutlicher, es war ein geschützter Raum, ein Raum außerhalb der Wirklichkeit, ein sicherer Hafen.
Veza war stolz, sie würde ihren Weg gehen. Sie brauchte ihre Familie nicht, eigentlich hatte sie ihre Familie nie gebraucht. Immer waren sie geschäftig, man hatte Marillen oder Kirschen bekommen, man musste die Birnen und Äpfel versorgen, musste einkochen und einlegen, Kompotte und Marmeladen, Quittengelee und Powidl. Man bekochte die Großfamilie, bewirtete und bediente, alle waren sie gesellig. Wir sind so viele, stellten sie zufrieden fest und blickten in die Runde. Sie waren unerträglich spontan, plötzlich stand töpfeweise Essen auf dem Herd, Suppen und Eintöpfe, Strudelteig wurde gezogen, Streusel und Kaffeebohnen geröstet, Nachtisch folgte auf Nachschlag und nach dem Süßen der mit reichlich Zucker angesetzte Kaffee. Der Familie schmeckte es, die Familie war wunderbar. Geschichten türmten sich über dem Tisch, sie drängten aus den wohlig gefüllten Bäuchen, am liebsten sprach man von damals, von der guten alten Zeit, eine Heerschar von Tanten und Onkeln, Cousinen und Großeltern, die ganze Mischpoche zog an den Bänken vorüber, machte Rast und brach wieder auf, während die Nächsten ihren Platz einnahmen. Und immer hatte jemand Geburtstag, und immer blieb einer ewig sitzen und hörte nicht auf zu reden, man kannte sie, die Sitzenbleiber , aber so unhöflich durfte man nicht sein, dass man mit dem Aufräumen begann, bevor sich der letzte Gast verabschiedet hatte.
Veza hasste die betuliche Hektik, es war ihr von allem zu viel, zu viel Wirbel, zu viel Essen, zu viel Lärm. Warum aufwendig kochen, wenn sie vom Einfachen satt wurden, wozu das sich Ereifern, das Beklatschen und Schulterklopfen, wozu all das Unnötige breittreten. Und doch die geheime Freude, am nächsten Tag erzählen zu können, ich bin müde, wir hatten am Abend Gäste. Das klang so normal.
Die Mutter teilte ihre drei Mädchen ein. Sie schnipselten Zwiebel und Paprika für Letschos, Orangen und Äpfel für Obstsalate, sie schleppten sauberes Geschirr von der Kredenz zur Tafel und das gebrauchte zurück in die Küche. Sie halfen beim Abwasch und kratzten die Reste von den Tellern, den abgestandenen Geruch der eingetrockneten Saucen und zurückgelassenen Beilagen fanden sie widerlich. Am nächsten Morgen übernächtig und nüchtern in der unaufgeräumten Küche zu stehen, war jedoch für die Mutter undenkbar.
Ein Glück, dass die Töchter hilfsbereit waren, von ihrem Mann konnte sie das nicht behaupten. Die Nachlässigkeit und provozierende Langsamkeit, die er an den Tag legte, wenn er ihr ausnahmsweise im Haushalt an die Hand ging, waren aufreizend. Als sei jeder Handgriff, jede Bewegung eine Überforderung. Als wisse sie nicht, wie flink und präzise, geradezu pedantisch er mit Nadel und Faden war, wie seine Aufmerksamkeit der kleinsten Unebenheit nachspürte, dem Faltenwurf, dem falschen Nadelstich, der zu großen Öse. Übergenau war er, seine Arbeit musste höchsten Ansprüchen genügen. Als sei ihre Arbeit es nicht wert, dass man Ansprüche stelle. Lustlos und halbherzig war seine Unterstützung, und halbfertig, nie zu Ende geführt, ein stummer Protest. Diese Wand aus Gleichgültigkeit. Hätte sie denselben Minimalismus angewandt, wären ihnen Ordnung und Sauberkeit abhandengekommen. Die Weinflaschen spülte er nicht aus, die Balken zum Balkon öffnete er nie bis zum Anschlag, die Gießkanne blieb halbvoll in der Badewanne stehen, und an den leeren Saftsteigen stieß sie sich so oft den Fuß, bis sie sich nicht mehr beherrschen konnte und ihn anschrie. Erst danach trug er sie murrend in den Keller. Ihre Gäste jedoch verwöhnten sie stets mit einem zuvorkommenden Lächeln.
Was war er für ein Mann gewesen, als sie sich kennengelernt hatten. Hätte sie ihn gebeten, Gewichte für die Wasserwaage zu besorgen, hätte er aus seinen klaren, dunklen Augen auf sie herabgeblickt und geantwortet, ihr Wunsch sei ihm Befehl. Er hätte sich etwas einfallen lassen, einen Schwank, einen Vers vielleicht, mit dem er auf ihre Torheit gekontert hätte. Er fuhr ihr nach, wenn sie mit ihren Eltern auf Sommerfrische war und nahm sich ein Zimmer in der Nähe, um ihr beim Nachmittagskaffee seine Aufwartung zu machen. Er hatte nie einen Jahrestag vergessen, nicht den ersten Kuss, nicht das Anhalten um ihre Hand und nicht die Verlobung. Er umgab sie mit unaufdringlicher Nähe, war feinfühlig und aufmerksam.
Sie wusste nicht, wann und wie ihnen das entglitten war. Das erste Vergessen, möglich, dass sie beide vergessen hatten, anderes drängte in den Vordergrund, drängte ihr Miteinandersein in den Hintergrund. Die Arbeit, der Haushalt, die Familie. Und keine Zeit für die Liebe. Das war bedauerlich. Der Gedanke, ein Kind zu verlieren hingegen, war qualvoll. Bitter enttäuscht war sie, das hatte sie nicht verdient. Alles hatte sie den Kindern gegeben, ihren Körper, ihren Schlaf, ihre Jugend, die besten Jahre hatte sie ihnen geschenkt und war darüber alt geworden. Dass ihr nichts bleiben sollte, nur das Geben, dass sie nichts fordern durfte. Warum konnte nicht er gehen. Sie hätten sich durchgeschlagen, wären bei der weitläufigen Verwandtschaft untergekommen, sie hätten zusammengehalten. Das Mädel haut einfach ab, will ins Kloster. Wirft mit Begriffen um sich, Postulat, Noviziat, Profess. Ein Gelübde wolle sie ablegen, das Gelübde des Gehorsams, der Armut und der Keuschheit. Und einen neuen Namen wählen. Als sei ihr Name nichts wert. Dann solle sie halt gehen, dann solle sie halt ein anderer Mensch werden, wenn sie das für möglich hielte, sie würde sie nicht aufhalten. Das hatte sie ihr an den Kopf geworfen, als sie sich nicht mehr beherrschen konnte, als sie es nicht mehr ertragen konnte, in das Gesicht ihrer Tochter zu blicken, das ihr so fremd geworden war. Er schlug sich auf Vezas Seite, wie immer, es gehe um den Glauben. Von wegen Glauben, Flausen waren das, und nicht einmal Flausen, dazu waren die Konsequenzen zu schwerwiegend. Das Kind entschied, das Kind ging, und sie durften ihm dabei zusehen. Das hatte sie nicht verdient.
Der erste Gedanke, der Lotti kam, war, dass sie das nicht verdient hätte. Sie konnte die Tragweite der Neuigkeiten nicht verstehen. Sie versuchte einen anderen Zugang, näherte sich aus der Perspektive der Erwachsenen, bei denen sie Schutz suchen wollte.
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