Lius Hände schnellten an seine Stirn, wo Blut aus einer Schnittwunde lief. Seine Stimme ähnelte mehr einem schrillen Kreischen, als er sagte: »Oh mein Gott, was ist passiert?«
Der Pilot biss die Zähne zusammen und schrie: »Irgendwas im Motor ist explodiert, wir stürzen ab!«
»Nein …«, stammelte Liu, als er sah, wie Flammen aus dem Motorraum schlugen und schwarzer Rauch ihre Sicht vernebelte.
»Wir können noch ein Stück weit segeln, aber das wird eine harte Landung«, mahnte der Pilot, wobei er die Augen nicht von der Anzeige der Flughöhe ließ, die sich rasant verringerte. Christines Hände krallten sich in den Sitz, ihr Gesicht in grenzenloser Angst verkrampft.
»Siehst du irgendwas, wo wir sicher landen können?«, fragte Liu, als eine zweite Explosion das Flugzeug durchschüttelte und sie steil nach unten stürzten.
»Festhalten!«, schrie der Pilot und riss die Steuerung im letzten Moment herum, als er einen kleinen Flusslauf entdeckte.
Das letzte, was Christine hörte, war Lius entsetzter Aufschrei, als die Maschine in das felsige Flussbett stürzte, wobei der Aufprall das Cockpit innerhalb von Sekundenbruchteilen zerstörte.
Dann strömte Wasser in die Kabine.
Zwei Tage später in Malibu, Kalifornien
Drake saß auf seinem Longboard im sanft wogenden Wasser vor der Küste und wärmte sich in den Strahlen der Morgensonne, während er auf die nächste Gruppe von vielversprechenden Wellen wartete, die sich langsam dem Strand näherten. Er wischte sich eine Strähne widerspenstigen Haares aus dem Gesicht und schaute nach links, wo drei andere Surfer auf ihren Brettern lagen, deren Neoprenanzüge ihnen das Aussehen von wohlgenährten Seelöwen verliehen. In der Ferne gingen einige Fischkutter ihrem Tagesgeschäft nach und erwartungsfrohe Möwen umkreisten sie laut schreiend.
Drake lebte nun seit zweieinhalb Monaten direkt am Strand – also seit ihm vorgeschlagen wurde, sich die Ecke einmal anzuschauen. Direkt vom ersten Augenblick an hatte er sich in Malibu verliebt. Im Gegensatz zu Nordkalifornien, wo es einen guten Teil des Jahres regnete, hatte er hier bisher nur idyllische Tage aus endlosem Sonnenschein erlebt.
Er hatte ein Strandhäuschen mit zwei Zimmern gemietet, das ziemlich unauffällig wirkte, vor allem im Kontrast zu einigen der übertrieben protzigen Bauten in der Nachbarschaft. Die waren einfach nicht sein Stil, und trotz des massiven Reichtums, an den er quasi über Nacht gekommen war, fühlte er sich immer noch fremd zwischen all den Hollywood-Regisseuren und berühmten Schauspielern, die ebenfalls an diesem Stück Strand zuhause waren.
Seine Tage bestanden daraus, ab Sonnenaufgang zwei bis drei Stunden zu surfen, bis er erschöpft war. Dann gab es Frühstück, bestehend aus Rührei und einer Karaffe voller frisch ausgepresster Orangen, die er jeden Morgen bei einem Markt um die Ecke kaufte. Vor dem Mittagessen absolvierte er dann einen langsamen Fünfkilometerlauf am Wasser entlang. Die Nachmittage verbrachte er vor seinem Computer, wo er E-Mails beantwortete und nach verlorenen Zivilisationen oder Gerüchten verlorener Schätze forschte.
Durch sein Abenteuer im Amazonas hatte Drake nämlich Geschmack an diesen Themen gefunden. Da er jetzt sowieso ein gefeierter Schatzjäger war, dachte er sich, könnte er doch etwas Konstruktives mit seinem Ruf und dem ganzen Geld anfangen. Er hatte immer nur Verachtung für die Reality-TV-Stars gehabt, deren einziges Talent darin zu bestehen scheint, über abgebrochene Fingernägel oder den Stress mit Paparazzi zu jammern. Deswegen hatte er sich geschworen, sich von diesem menschlichen Bodensatz fernzuhalten. Stattdessen würde er das Erbe seines Vaters antreten und sich den Respekt verdienen, den er bisher eher durch Zufall erlangt hatte.
Sein aktuelles Forschungsobjekt war eine Inkastätte in Peru, auf die in einem Dokument hingewiesen wurde, das er in Paititi gefunden hatte. Er war dabei, eine Expedition zusammenzustellen, um danach zu suchen. Die Dringlichkeit bei dieser Aufgabe kam einerseits daher, dass ihm schlicht langweilig war – er wollte nicht zu viel seiner kostbaren Lebenszeit mit Nichtstun verbringen. Der wichtigere Grund war allerdings, dass er Allie endlich wiedersehen wollte. Ihr Treffen in Texas war nicht so verlaufen, wie er es sich erhofft hatte – die Trauer um ihren Vater sowie die vielen Aufgaben im Zusammenhang mit seiner Beerdigung und der Abwicklung seines Nachlasses hatten sie voll und ganz in Beschlag genommen. Nur wenige Tage, nachdem sie wieder die Zivilisation erreicht hatten, standen sofort diverse Fremde auf der Matte, die behaupteten, diverse per Handschlag besiegelte Geschäfte mit Jack am Laufen zu haben und deswegen offene Forderungen beglichen haben wollten. Dabei ging es um beachtliche Summen, zwar nicht nach Drakes neuen Maßstäben, doch es waren über zehn Millionen Dollar. Der in den Medien aufgeplusterte Reichtum von Allie tat sein übriges, dass die Parasiten aus allen Löchern gekrochen kamen und ein Stück vom Kuchen abhaben wollten.
Allie hatte Drake um Entschuldigung gebeten und gesagt, dass sie sich erst einmal allein um die Angelegenheiten ihres Vaters kümmern wollte. Doch dieses Unterfangen dauerte dann nicht Wochen, sondern Monate, und die paar wenigen Telefongespräche waren bei Weitem nicht ausreichend, um ihre besondere Verbindung aufrecht zu erhalten. Bei seinem letzten Besuch in Texas hatte sie ihn mit einer gewissen Unterkühlung begrüßt, aus der er nicht so richtig schlau geworden war. Sie war zwar der Meinung, es würde schon alles wieder werden, aber er war sich da nicht so sicher. Er hatte sich bereits überlegt, einen Flug zu nehmen und einfach bei ihr in der Nähe einzuziehen und dann vor Ort darauf zu warten, dass sie Zeit für ihn hätte. Doch diese Idee hatte er nach einer Konsultation mit Betty verworfen, die von der Sekretärin seines früheren Arbeitgebers zu seiner persönlichen Assistentin aufgestiegen war.
»Gib ihr etwas Zeit, Drake. Sie hat eine Menge mitgemacht«, hatte Betty gesagt.
»Ich weiß, ich war selbst dabei, falls du dich erinnerst.«
»Aber sie hat ihren Vater verloren! Das ist immer schwer, aber für manche noch schwerer als für andere.«
»Der ganze Gerichtsstress macht es sicher auch nicht besser«, hatte Drake hinzugefügt.
»Ich weiß, dass sie dir unheimlich wichtig ist, Drake, aber wenn man das große Ganze betrachtet, was sind dann schon ein paar Wochen mehr oder weniger? Wenn eine Lady sagt, dass sie noch Zeit braucht, dann gewähre sie ihr, sonst wird sie dich auf ewig hassen. Das ist mein Ratschlag.«
»Da hast du sicher recht. Aber ich will irgendetwas für sie tun!«
»Dann schicke ihr einen Strauß Rosen oder kaufe ihr eine Insel. Aber rücke ihr nicht auf die Pelle!«
Dieses Gespräch hatte vor einem Monat stattgefunden, und seitdem hatte er Allie nur drei Mal gesprochen. Das hatte er sich ganz anders vorgestellt. Doch sein Selbstmitleid wurde durch eine Stimme unterbrochen. »Das sieht nach einer guten Wellengruppe aus«, rief sein neuer Freund Seth aus ein paar Metern Entfernung.
»Cowabunga«, bestätigte Drake ihm mit dem Schlachtruf der Surfer und brachte sich in Position. Seth ließ sich von der ersten Welle davontragen, während Drake auf die nächste wartete und dafür belohnt wurde, denn er sah, wie sich eine noch viel größere Welle bildete. Wie ein Wilder paddelte er los und kam genau im richtigen Moment an. Er richtete sich auf und der Ritt begann. Obwohl der Spaß nur zehn Sekunden dauerte, fühlte Drake genau die gleiche Begeisterung wie damals im Norden, wo er auf seinem Kurzbrett allerdings einen Neopren-Vollanzug mit Kapuze hatte tragen müssen, um die Temperaturen bei Santa Cruz auszuhalten. Das wärmere Wasser hier half ihm, sich zu entspannen, und auch die Freundschaft der anderen Surfbegeisterten war etwas ganz anderes als das Konkurrenzdenken, dass er aus Huntington und Newport Beach kannte.
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