An der nächsten Ecke bog er in eine düstere Gasse ein, deren Straßenlaternen längst defekt waren, und joggte dann auf einen verbeulten Pick-up-Truck vom Typ Toyota Hilux zu. Er ließ sich hinter das Lenkrad gleiten und warf seine Tasche auf den Beifahrersitz. In der Fahrerkabine blieb es dunkel; die Glühlampe hatte er als Vorsichtsmaßnahme entfernt. Solche Kleinigkeiten konnten den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen, das wusste er genau.
Der Motor sprang mit einem Röcheln an und er legte den erste Gang ein. Nachdem er zwei Blocks hinter sich gelassen hatte, sah er im Rückspiegel zwei Hubschrauber mit gleißenden Suchscheinwerfern, die über die Dächer der Nachbarschaft tanzten, in der er sich eben noch aufgehalten hatte.
»Verdammt«, murmelte er und kämpfte gegen den Drang an, das Gaspedal durchzutreten. Wenn er Glück hatte, würde er es schaffen. Wenn nicht … tja. Er durfte jedenfalls nicht zulassen, dass er geschnappt wurde. Seine rechte Hand streifte über den Griff seiner Pistole und er verzog das Gesicht. Er hoffte wirklich, dass es nicht dazu kommen würde, aber es gab Schlimmeres als den Tod.
Sirenen heulten in der Ferne auf und er versuchte abzuschätzen, aus welcher Richtung sie kamen. Sobald die örtliche Polizei alarmiert war, würden seine Chancen immer weiter sinken. Jacks Gedanken kreisten um das Gespräch mit seinem Einsatzleiter. Jemand hatte Details von einer streng geheimen Operation ins Netz gestellt. Was hatte das zu bedeuten? Natürlich war ganz offensichtlich, dass sie infiltriert worden waren. Aber wie konnte das sein? Rein technisch war es absolut unmöglich.
Das Jaulen einer Sirene ganz in seiner Nähe bewies das Gegenteil. Ein Polizeitransporter bog um eine Ecke hinter ihm und raste auf ihn zu. Jack wog seine Optionen ab, während er das Fahrzeug im Außenspiegel näherkommen sah. Er war gerade im Begriff, eine Vollbremsung zu machen, als der Polizeiwagen mit quietschenden Reifen in eine Seitenstraße abbog.
»Ganz ruhig bleiben, Jack«, sagte er zu sich selbst. Auf einmal sehnte er sich nach einem Drink, obwohl er seit über zehn Jahren keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt hatte. Doch nun sah er ganz klar einen golden schimmernden Bourbon vor seinem geistigen Auge, roch das herrliche Aroma und spürte, wie die Flüssigkeit seine Kehle hinunterrann und sich ein wohlig-warmes Gefühl in seinem Körper ausbreitete. Alte Gewohnheit , dachte Jack und fuhr in gemäßigtem Tempo weiter, wobei er die Ohren spitzte, um weitere mögliche Verfolger rechtzeitig wahrzunehmen.
Als er den Stadtrand erreicht hatte, fiel sein Blick auf die Tankanzeige. Halbvoll, was bedeutete, dass er es noch locker nach Peshawar schaffen würde, wo er ein paar Tage untertauchen konnte, um sich dann nach Afghanistan abzusetzen. Es grenzte zwar an Selbstmord, hier in der Gegend nachts herumzufahren, aber er hatte keine Wahl.
So wenig Lust er auch dazu verspürte, als Nächstes musste er an einem Müllcontainer halten und seine Waffen wegwerfen. Denn die würden ihn verraten, und man musste es seinen Gegnern ja nicht zu leicht machen. Es war klar, dass sie auf ihn Jagd machen würden, aber die Waffen würden garantiert nie gefunden werden – denn auf dem Schwarzmarkt brachten sie einen stolzen Preis ein, der für einen Müllmann mehrere Monatslöhne bedeutete.
Mit einem letzten Kontrollblick auf die Straße hinter ihm kletterte er wieder in den Wagen und steuerte ihn nach Westen auf den Kyber-Pass zu. So würde ihm hoffentlich die Flucht gelingen.
24 Stunden später, Xishuangbanna, Yunnan-Provinz, China
Christine Whitfield schaute auf, als sich die Eingangstür der Wohnung ihres Freundes öffnete. Sie sah sofort, dass er aufgeregt war, und zwar nicht zu knapp. Seine normalerweise entspannten Gesichtszüge waren von Angst gezeichnet – eine Emotion, die auf dem faltenfreien Gesicht des Endzwanzigers deplatziert wirkte.
»Was ist los, Liu?«, fragte sie. »Ich dachte, du bist bis morgen in Guandu.«
»Wir müssen verschwinden«, sagte er knapp und schnappte sich seinen Laptop. »Jetzt sofort.«
»Was? Wieso?«
»Ich habe von einem Freund eine Warnung bekommen. Es ist etwas schiefgelaufen. Pack deinen Computer ein. Nimm alles mit. Unten wartet schon ein Taxi.«
»Aber wo gehen wir denn hin?«
»Nach Thailand. Dort können wir untertauchen. Zumindest lange genug, um herauszufinden, wie schlimm es ist. Aber ich gehe davon aus, dass der schlimmste Fall eingetreten ist.«
»Aber es ist mitten in der Nacht!«
»Kein Problem, ich habe auf dem Weg meinen Bruder angerufen. Er hat uns eine Privatmaschine besorgt.«
Sein Gesichtsausdruck überzeugte sie schließlich. Er wirkte todernst, seine Augen weit aufgerissen. Sie sprang auf. »Wer ist denn hinter dir her?«, fragte sie.
»MSS – das Ministerium der Staatssicherheit. Oder irgendein anderer Dienst. Ist ja eigentlich egal, welche Abkürzung es ist.«
»Und was wollen sie von dir?«
»Ich habe keine Ahnung.« Er hatte seinen Computer verstaut und hielt kurz inne, dann sah er sie mit festem Blick an. »Darum können wir uns später noch Gedanken machen. Aber wenn sie uns erwischen, sind wir erledigt.«
»Du hast den Chinesen aber doch nichts getan. Warum sollte der MSS dir dann nachstellen?«
»Da denken die sich einfach etwas aus. Du weißt doch, wie das hier läuft. Für die richtige Summe ist alles möglich.«
Sie schüttelte den Kopf. »Hast du mir etwas verschwiegen?«
»Darüber können wir im Flugzeug reden. Nimm mit, was du brauchst, und vergiss vor allem deinen Ausweis nicht.«
Fünf Minuten später waren sie auf dem Weg zum Flughafen. Der Taxifahrer war sichtlich desinteressiert an dem auffälligen Paar – eine blonde, westliche Frau mit einem Einheimischen. Sie sahen zu, wie die Gebäude vorbeiflogen, als das Taxi durch die leeren Straßen raste. Im Radio lief ein bekannter chinesischer Popsong, der wegen seines provokanten Textes für einigen Wirbel gesorgt hatte. Christine war wirklich versucht, Liu weiter auszufragen, aber ein Blick von ihm signalisierte ihr, damit zu warten. Sie vertraute ihm voll und ganz und war gewillt, ihm in dieser offensichtlich gefährlichen Situation blind zu folgen.
Das Hauptgebäude des Flughafens war bereits geschlossen und das riesige Terminal lag komplett im Dunklen, nur ein paar Sicherheitskräfte patrouillierten mit Taschenlampen auf und ab. Das Taxi bog in eine Auffahrt für Zulieferer ein und fuhr durch ein offenes Tor zu einem abgelegenen Ende des Rollfeldes, wo etwa ein halbes Dutzend Flugzeuge standen. In der hinterletzten Ecke stand eine uralte Cessna 172 mit angeschaltetem Licht im Cockpit. Als sie sich näherten, erkannten sie im Zwielicht einen dünnen chinesischen Mann, der am Leitwerk herumhantierte – den Piloten.
Das Taxi rollte vor und Liu und Christine stiegen aus. Auch der Fahrer verließ den Wagen und ging zum Kofferraum, wobei er sich eine Zigarette anzündete. Rauchen schien das liebste Hobby der Chinesen zu sein, hatte Christine das Gefühl, denn trotz der Gesundheitsrisiken erfreute es sich großer Beliebtheit. Der Fahrer öffnete den Kofferraum und sie schnappten sich ihre Taschen. Dann drückte Liu dem Mann ein Bündel Geldscheine in die Hand, was mit einem Lächeln und einer Verbeugung quittiert wurde. Anschließend stieg der Mann in seinen Wagen und fuhr davon.
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