1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 R. fährt mit dem Ehepaar Doppler nach Riem. Das Mädchen am Schalter von InterRent scheint mit dem Problem vertraut. Es kommt wohl öfter vor: R. wird als Fahrer für den Lastwagen eingetragen. Das könnte nur im Fall einer Polizeikontrolle kritisch werden – Bernhard Doppler wiegelt ab: Er erklärt, dass man ihn bei den 20000 Kilometern, die er durch die BRD gefahren ist, nur ein einziges Mal angehalten habe. Und da wollte der Polizist nicht seinen Führerschein, sondern seinen Pass sehen.
Der Rockgruppe »Breaking Glass«, insbesondere ihrer Sängerin Kate, gelingt der Aufstieg; vom Kneipenauftritt über billige Tourneen bis zur LP. Danny, der Lover von Kate und unermüdliche Manager, organisiert die Karriere.
Aber als sie gelungen ist, hat Danny die Gruppe verlassen, ebenso der Drummer und der Saxophonist, und Kate liegt mit schweren Depressionen in einer Klinik. Die Musik wurde ekelhaft gesüßt – »was ist aus dem Rock ’n’ Roll geworden!?«, schreit Danny, als er sie in der Kneipe hört, er greift eine Flasche und schmeißt sie in die Musikbox.
Merkwürdig, so R. nach dem Kino, das Interpretationsschema »Verrat und Korruption« kommt immer schneller zum Zuge. Früher ließ man den Leuten ein paar Jahre Erfolg und fing erst dann an mit den Vorwürfen, sie hätten ihre Jugend verraten, seien vom Kommerz korrumpiert usf.
Aber Goetz interessiert das Thema nicht. Er, der am Anfang des Erfolgs steht, hat die Vorwürfe vermutlich selber schon oft genug zu hören bekommen.
Auf dem Parteitag in München wird der bayerische Ministerpräsident mit 96,7 Prozent der Stimmen wieder zum Vorsitzenden gewählt. Der bayerische Ministerpräsident nutzt seine Grundsatzrede für eine Generalabrechnung mit der Bundesregierung.
Die Krise ist da, und jeder weiß es. Es wird nicht mehr regiert, es wird nur noch schlecht verwaltet. Während seine Partei die Wirklichkeit zeigt, wie sie ist, und Wege aufzeigt, die vernünftig und gangbar sind, beißt sich die Partei des Bundeskanzlers in ideologischen Dauerdiskussionen fest. Wer, wie der Bundeskanzler, seine Partei nicht in Ordnung hält, kann auch Staat und Gesellschaft nicht in Ordnung halten bzw. bringen. Weite Bevölkerungskreise erfüllen Enttäuschung und Angst, denn die Bundesregierung hat das Land an den Rand eines Staatsbankrotts geführt und eine Vertrauenskrise ausgelöst, die sich zu einer Staatskrise auszuwachsen droht. Die Bundesregierung muss den politischen Offenbarungseid leisten.
R. beschäftigt der Mann, der in seiner Reihe am Fenster des Flugzeugs sitzt. Fett, in einem Pepitaanzug, mit weißem Hemd und Schlips, das üppige graue Haar nach oben und hinten gekämmt.
Irgendetwas stimmt nicht daran, er ist nicht der Graue Löwe, der er gern wäre. Pepitaanzüge gelten als ordinär; das Haar wächst nicht üppig genug, um eine Mähne zu bilden, außerdem zeigt es, weil fettig, Strähnen. Er liest nicht die FAZ, sondern Die Welt. Und später, das ist das Detail, das noch fehlte, später legt er das unzureichend bewachsene und deshalb nicht so zu nennende Haupt auf die Kopfstütze, er schläft und schnarcht hilflos.
»Doch bloß ein Vertreter.«
Köln. Am Frühstücksbüffet des Hotel Intercontinental ergeht es R. wie immer an solchen Büffets: Er findet die gekochten Eier nicht, von denen er gern eines verzehrt hätte; er kann sich nicht zu einem Glas Orangensaft entschließen, geschweige zu den Cornflakes mit Milch, die er gern mal wieder probiert hätte; ein Mann vor R. hebt den Kupferdeckel von einem Rechaud: ein gelblicher Brei, zu dem R. »Porridge« einfällt; aus einem anderen Rechaud legt er vier kleine gebratene Würstchen dazu, was R. richtig ekelt; die Brötchen in dem Korb sind gerade vergriffen.
Als er zwei lappige Toastbrote mit Wurst und Käse lustlos gegessen hat, entdeckt R., von seinem Platz aus, den Korb, der die gekochten Eier enthält; das erste Rechaud enthält nicht Porridge, sondern Rührei, in dem zweiten wurde eben der gebratene Schinken nachgefüllt – R. hätte ein englisches Frühstück haben können, und das hätte ihn erfrischt nach dem kurzen und schlechten Nachtschlaf.
Aber jetzt, da R. das alles richtig gesehen hat, kann er sich auch nicht dazu entschließen, noch einmal von vorn anzufangen.
Harald Wieser, erzählt Goetz, habe ihm erzählt, dass Enzensberger ihm, Wieser, anvertraut habe, seine, Goetz’, Feuilleton-Reportage sei das Naivste und Dümmste, was die Zeitschrift je gedruckt habe. Er, Goetz, werde sich unsterblich blamieren.
Sicher, so R., naiv ist sie, aber das war doch von vornherein klar, dass Sie nicht der große Durchblicker sind, auch Enzensberger war es klar. Das »Naivste und Dümmste« geht gewiss auf Wiesers Kosten – er nimmt Ihnen, sagt Kathrin, übel, dass Sie nicht zum Spiegel gegangen sind, dass er Sie nicht lancieren und protegieren konnte. Und Enzensberger, sagt R., musste Wieser kalmieren, weil Sie in der Zeitschrift geschrieben haben, Wieser aber noch nicht – er habe von Enzensberger sehr sarkastische Bemerkungen über Wieser und seine Fähigkeiten gehört. So geht es eben zu in der Branche.
Aber das überzeugt Goetz nicht, und R. ärgert sich solidarisch ein paar Stunden lang am Nachmittag.
»R136a«, liest R. in der SZ, »der von ganzen Hundertschaften von Astronomen beäugt und abgehorcht wird, ist wegen seiner Größe, Helligkeit und Masse ein Stern, der eigentlich nicht sein kann, weil er der wissenschaftlichen Diskussion nach nicht sein darf.« R. befällt eine intensive Angst. »Der Bonner Astrophysiker Wolfgang Kundt hält eine Sonne mit den von den Forschern Joseph Cassinelli, John Mathis und Blair Savage geschilderten Eigenschaften für ›nicht stabil‹, nach bisherigen Regeln müsste diese gewaltige Masse kollaborieren.« Auch dieser Druckfehler hindert die Angst von R. nicht an weiterer Expansion, als imitiere sie die Bewegung, die der Stern sich erspart. »Nach Auffassung der amerikanischen Astronomen besteht aber so gut wie kein Zweifel daran, dass es sich bei dem Objekt in der großen Magellanstraße«, das ist der Schreibfehler von R., »in der Großen Magellanschen Wolke um einen einzigen Stern handelt.«
Kathrin beschäftigt gerade die Rätselfrage, warum ist etwas und nicht nichts? Wieso sie das in den fünfziger Jahren besonders krass empfand. Und die Magellanstraße lieferte R. in der Kindheit eines der verführerischsten Bilder drohender und lockender Ferne (»Feuerland«).
Der Sohn von Helmuth James Graf von Moltke erklärt in einer Fernsehsendung über die Söhne der Widerstandshelden, dass Deutschland geteilt bleiben muss. Vereinigt habe es entsetzliches Unheil angerichtet. Die Fotos seines Vaters vor dem Volksgerichtshof stehen R. seit Annedore Lebers Bildband im Kopf. R. fiel schon am Morgen wieder die Frage ein, warum heute kein Nationalfeiertag sei?
»Das Auto muss ich mir noch anschauen«, ruft Hartmut Eggert und geht auf ihren neuen Wagen zu, nachdem R. schon eingestiegen ist. »Ah, ein R5!« – »Vierzehn!«, ruft R. aus dem geöffneten Fenster, »R14!«
Aber Hartmut Eggert hört es nicht.
»Neulich sagte jemand zu mir«, erzählt Horst Königstein in seiner allzu freundschaftlichen Manier, »ich weiß gar nicht, was du an dem Rutschky so faszinierend findest. Das sind doch bloß des Kaisers neue Kleider.«
R. lacht kräftig mit – weil er die Kränkung nur langsam versteht. Das Verstehen kostet ihn Stunden.
»Gestern und vorgestern«, erzählt R., »machten mich die Konferenzen wieder richtig krank.« – »Warum?«, fragt Goetz. – »Ich weiß auch nicht, es muss das Phantasieren sein, das wir andauernd betreiben, Tagträume, Größenideen. Gaston Salvatore liest von seinem Notizblock mit dem Hilton-Logo die Themen ab, die ihm so eingefallen sind und die jetzt die Autoren gefälligst zu bearbeiten hätten. Enzensberger und Salvatore halten nichts von der Herausgeberin, die schweigend zuhört, und die Herausgeberin hält nichts von Enzensberger und Salvatore als Blattmachern.« – »Weil sich die Zeitschrift nicht verkauft.« – »So ist es.«
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