In der darauffolgenden Woche kam Fidelitas nicht dazu, das berühmte Münster zu besuchen; sie war viel zu beschäftigt damit, Stöcklins Familie kennenzulernen und sich um seine Frau zu kümmern.
Das Haus der Stöcklins lag einen kurzen Fußweg vom Münsterplatz entfernt, fast in Sichtweite des Martinstores und gerade weit genug weg vom Gerberviertel, dass man auch bei ungünstigem Wind die üblen Dünste nicht roch. Außer Vinzenz und seiner Mutter Gundis lebten dort noch Vinzenz' Frau Regula, sein Vater Heinrich und seine Tochter Veronika. Mit dem Hausgesinde waren es insgesamt neun Menschen, mit Fidelitas zehn.
Fidelitas bekam schnell heraus, dass Gundis Stöcklin in dem verwinkelten Fachwerkbau, den ihr Mann vor etwas mehr als vierzig Jahren gekauft hatte, herrschte wie eine Königin. Allerdings war ihr Regiment alles andere als milde. Die Dienerschaft hatte Angst vor ihr, und binnen kürzester Zeit hatte Fidelitas den starken Eindruck, dass es ihrer Familie keinen Deut besser ging.
Am ersten Tag hatte der Kaufmann sie freundlich gebeten, an den gemeinsamen Mahlzeiten im Speisezimmer teilzunehmen. Das war der größte Raum im ersten Stock, mit einer Kassettendecke aus dunkler Eiche, einem langen, glänzend polierten Tisch und Fenstern aus kostbarem Buntglas mit Rosen und Blätterranken. Gundis ließ allerdings keinen Zweifel daran, dass sie die Aussicht, mit der Pflegerin ihrer Schwiegertochter an einem Tisch zu essen, höchst unpassend fand.
»Ich bin sicher, die Schwester fühlt sich auch in der Küche wohl«, sagte sie, als Vinzenz ihr Fidelitas vorstellte und sie im selben Atemzug zum Mittagessen mit den Seinen einlud. Der Kaufmann öffnete protestierend den Mund – und schloss ihn wieder, als wäre ihm bereits klar, dass es keinen Zweck hatte, seiner Mutter zu widersprechen. Fidelitas hielt es für unklug, gleich am ersten Tag Anlass für einen Familienzwist zu sein; sie war auf das Wohlwollen von Gundis Stöcklin angewiesen, um den Dienst, für den sie gekommen war, möglichst ungestört und ohne Anfeindungen verrichten zu können. Also nickte sie und verneigte sich mit einem höflichen Lächeln.
»Selbstverständlich, Frau Stöcklin.«
Gundis saß in einem Lehnsessel in ihrem Zimmer, in einem Kleid aus fein gesponnener dunkelblauer Wolle, ein goldenes Kruzifix an einer Kette aus geschliffenen Rosenquarzperlen auf der Brust. Ihr faltiges Gesicht mit dem schmal zusammengepressten Mund und den scharfen, dunklen Augen wurde von einer reich gefältelten weißen Haube eingerahmt, am Ringfinger ihrer Rechten, die auf der Armlehne ruhte, steckte ein auffälliger Goldring mit einem weiteren Rosenquarz. Ihre ganze Körperhaltung war darauf angelegt, einschüchternd zu wirken.
»Du kannst sie jetzt durch das Haus führen, Vinzenz«, sagte sie zu ihrem Sohn. »Und zu deiner Frau – schließlich ist sie ja hier, damit sie sich um Regula kümmert, oder nicht?«
Ein abschätziger Blick, ein leicht verächtliches Gekräusel der Mundwinkel.
»Wobei es mir ein Rätsel ist, wieso du dafür unbedingt eine Nonne hast herschleppen müssen – ich bin sicher, wir würden schon bald einen neuen Medikus finden, der vielleicht endlich herausbekommt, warum die Gute es seit Jahren nicht fertigbringt, sich zu irgendeinem nützlichen Beitrag in diesem Haushalt aufzuraffen.«
Vinzenz wurde bleich. In seinen Augen blitzte es wütend, aber erneut wagte er keinen Widerspruch. Fidelitas hielt es für angebracht, ihm beizustehen.
»Wer lange leidet, verliert irgendwann alle Kraft«, sagte sie sanft. »Das wird bei Frau Regula nicht anders sein. Aber ich versichere Euch, Frau Stöcklin – ich bin im Umgang mit Kräutern und Arzneien sehr erfahren und will mich bemühen, ihr zu helfen, so gut ich irgend kann.«
»Wir werden sehen.«
Gundis Stöcklin musterte sie von Kopf bis Fuß, als hoffte sie, irgendeinen Fehler oder eine Schwäche zu finden. Fidelitas erwiderte ihren Blick ruhig, und ohne mit der Wimper zu zucken. Dann verneigte sie sich zum zweiten Mal, drehte sich um und folgte Vinzenz Stöcklin zur Tür hinaus.
Erst, als er sich sicher war, dass seine Mutter ihn nicht mehr hören konnte, blieb der Kaufmann stehen und räusperte sich verlegen.
»Ihr müsst ihr vergeben«, sagte er. »Sie ist Fremden gegenüber misstrauisch, und leider macht dieser Argwohn auch nicht halt vor Eurem Habit.«
»Ich bin auf Euren Wunsch hier«, erinnerte ihn Fidelitas. »Aber ich habe nicht die Absicht, Streit in Euer Heim zu tragen, und ich brauche weder ein feines Quartier noch irgendeine andere Vorzugsbehandlung.« Sie lächelte ihn an. »Das wäre bestimmt auch nicht im Sinne der Ehrwürdigen Mutter.«
»Ihr meint, Ihr sollt die Tugend der Demut nicht nur zu Hause in Eurem Kloster üben, sondern auch hier?« Die Lippen des Kaufmanns zuckten. »Nun – ich fürchte, dazu werdet Ihr noch reichlich Gelegenheit haben!«
Er geleitete sie über eine schmale Stiege hinauf unter das Dach, wo eine überraschend geräumige Kammer auf sie wartete – mit einem Bett, das deutlich breiter war als das Nachtlager in ihrer Klosterzelle, mit einem Tisch samt Stuhl, Pergament und Schreibfeder und einer kleinen Truhe für ihre überschaubaren Habseligkeiten. Fidelitas' Bündel, ihre Kräuterkiste und das kleine Kruzifix, das sie begleitete, wo immer sie auch hinging, waren bereits heraufgebracht worden. Fidelitas gefiel dieses Quartier, und sie bedankte sich mit ehrlicher Freude.
Der Rest des Hauses zeugte – wenn man vom Speisesaal absah – zwar von einem soliden Vermögen, nicht aber von protzigem Reichtum. Vinzenz' Vater residierte in einem Zimmer zwei Türen weiter; jeder Zoll der Wände war mit Bücherregalen bedeckt, und es roch anheimelnd nach Leder und Pergament. Fidelitas vermutete, dass der alte Herr – der auf sie so sanftmütig wirkte wie seine Frau herrisch – sich hier ein Refugium geschaffen hatte, in dem er von Gundis nicht gestört wurde. Und Gundis ihrerseits war es vermutlich ganz recht, dass er sich schon lange nicht mehr in die Geschäfte von Frau und Sohn einmischte.
Vinzenz' Tochter Veronika lernte Fidelitas erst am späten Nachmittag ihrer Ankunft kennen, als das junge Mädchen von der Schneiderin zurückkam. Ihre Großmutter hatte für sie ein neues Kleid bestellt, vermutlich, um sie für Bewerber um ihre Hand noch anziehender zu machen. Dabei war sie auch ohne Samt, Spitze und Stickerei anziehend genug.
Ihre leuchtend blauen Augen wurden von langen Wimpern umkränzt, so dunkel wie ihre dichten, glänzenden Locken, die ihr offen vermutlich bis fast zur Hüfte reichten. Ihr Gesicht war ein sanftes, rosiges Oval, ihr Mund so zart wie eine Rosenknospe kurz vor dem Aufblühen. Ihr Vater betrachtete sie mit liebevollem Stolz, und als sie Fidelitas begrüßte, war ihre Stimme hell, leise und freundlich. Fidelitas ertappte sich bei dem inständigen Wunsch, dass diese überaus begehrenswerte Jungfer mehr Substanz besäße, als die glatte Fassade vermuten ließ. Denn sonst würde ihre Großmutter sie mit Sicherheit an den Höchstbietenden verschachern wie ein Stück Mastvieh auf dem Markt.
Vinzenz' Frau war Fidelitas bis dahin noch nicht begegnet; bei ihrer Ankunft hatte sie noch geschlafen. Als es gegen Abend endlich zu einem ersten Treffen kam, fühlte es sich an wie der Besuch in einer anderen, hermetisch abgeschlossenen Welt. Die kleinen Butzenfenster des Zimmers, in dem Fidelitas' neue Patientin sich hauptsächlich aufhielt, waren mit dicken Vorhängen abgedunkelt, die Luft warm und stickig. Die Uhr des Münsters hatte gerade erst fünf geschlagen, aber auf dem Tisch und dem Nachtkasten neben dem Bett brannten bereits ein Dutzend Kerzen in Silberleuchtern, als könnte die Kranke das Licht der Sonne nicht ertragen.
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