Was war das hier? Wo war er bloß hingeraten?
Er machte den Versuch, sich aufzusetzen, und sank hilflos wieder auf das Laken zurück. In seinem Kopf drehte sich alles, seine Ohren klingelten, und ihm war übel. Er versuchte, sich die Ereignisse der vergangenen Stunden ins Gedächtnis zu rufen, stellte fest, dass er das nicht konnte, und fühlte sich noch elender. Er schloss die Augen wieder und hätte am liebsten geweint.
Das Dröhnen in seinem Kopf ertränkte die Schritte, die sich seinem Bett näherten, aber die leise, freundliche Stimme, die als Nächstes kam, übertönte es nicht.
»Seid Ihr wach, Herr? Könnt Ihr mich hören?«
Er tastete ziellos nach Halt; seine Hand wurde erfasst und in einem tröstlich warmen Griff festgehalten.
»Deo gratias – so ist's recht. Jetzt müsst Ihr mich nur noch anschauen und mit mir reden, dann habe ich eine Sorge weniger.«
Er öffnete die Augen einen Spaltbreit und sah, dass eine Frau auf einem niedrigen Schemel neben seinem Bett saß. Eine Nonne. Sie trug das schwarze Habit mit der weißen Haube, die ihr Gesicht eng einrahmte; ein kluges, eckiges Gesicht mit reiner, heller Haut, dessen Alter sich merkwürdigerweise nur schwer schätzen ließ. Vielleicht war sie Mitte zwanzig oder auch Anfang dreißig, er konnte es unmöglich sagen. Ihr Kinn sprang leicht vor, was von einer gewissen Sturheit sprach. Ihre Augen waren groß und von einem leuchtenden Haselnussbraun, in dem goldene und grüne Lichter tanzten.
»Wo … wo bin ich?«
Seine Stimme klang so heiser, als hätte er eine Handvoll Kieselsteine verschluckt.
»Ihr seid im Kloster Frauenalb, Herr«, sagte die Nonne. »Im Infirmarium, genauer gesagt. Unsere Knechte haben Euch letzte Nacht hergebracht, nachdem sie Euch fast in Sichtweite unseres Gasthofes besinnungslos aufgefunden haben. Ihr müsst böse gestürzt sein.«
»Ich …«
Plötzlich kehrte die Erinnerung zurück und traf ihn wie ein heftiger Schlag in die Magengrube. Das Gebrüll der Räuber, die ihm und seinem Wagen aufgelauert hatten … Ein wilder Tumult aus klirrenden Schwertern und Schmerzensschreien … Im Licht der fast untergegangenen Sonne zwei grässlich verkrümmte Leichen auf dem Waldboden … Und er war geflüchtet, als wäre ihm der Leibhaftige auf den Fersen.
»Wir wurden überfallen«, murmelte er. »Zwei der Wachen, die meinen Besitz schützen sollten, sind ermordet worden von dem Gesindel, das scharf war auf meine kostbaren Tuche und mein Gold. Die anderen beiden … Ich weiß nicht, wo sie abgeblieben sind.« Er stellte fest, dass er am ganzen Leib zitterte. »Vielleicht sind sie ja auch tot.«
Die Nonne schüttelte den Kopf. Ihr Daumen strich beruhigend über seinen Handrücken. »Nein. Sie haben genauso hergefunden wie Ihr. Und von ihnen haben wir auch gewusst, dass wir nach Euch suchen müssen. Die Mutter Oberin hat sofort unsere Knechte ausgeschickt, und ich bin dankbar, dass sie Euch so schnell entdeckt haben. Ein gebrochenes Bein ist übel genug – nach einer Nacht im Wald hättet Ihr Euch vielleicht auch noch eine Lungenentzündung zugezogen, Herr Stöcklin.«
Er bewegte versuchshalber das rechte Bein … und biss sich auf die Lippen, als der Schmerz bis hinauf in seine Leiste schoss.
»Es ist ein sauberer Bruch«, meinte die Nonne beruhigend. »Er ist ordentlich geschient, und bislang habt Ihr noch kein Fieber. Wenn Ihr lange genug stillhaltet und es mit Gottes Hilfe zu keiner Entzündung kommt, seid Ihr in ein paar Wochen so gut wie neu.«
Plötzlich war er sehr erschöpft.
»Mein … mein Wagen? Was ist mit meinem Wagen?«
»Das wissen wir nicht«, erwiderte die Nonne. »Wir haben uns erst einmal um Euch und Eure Verletzung gekümmert. Aber ich vermute, dass die Männer, die Euch überfallen haben, den Wagen ebenso mitgenommen haben wie das Zugpferd.«
Sein Herz sank. Er versuchte, zu überschlagen, wie hoch der Verlust sein mochte, den er erlitten hatte, aber die Zahlen vollführten in seinem Kopf nur einen verwirrenden Tanz. Er schloss die Augen und seufzte.
»Waren kann man ersetzen, Herr Stöcklin.« Die Stimme der Nonne war sanft, aber bestimmt. »Ein verlorenes Leben nicht.«
Jetzt klang sie deutlich näher. Er spürte, wie die Decke über ihm glatt gestrichen wurde, und der vertraute Kräuterduft verstärkte sich.
»Meine Mutter hat mir immer Engelwurz gegeben«, murmelte er. »Wenn mich mal wieder der Magen gedrückt hat vom guten Essen unserer Köchin.«
»Dann hat Eure Frau Mutter sich gut ausgekannt.« Er konnte hören, dass sie lächelte. »Ich gebe Euch jetzt auch etwas: ein Tonikum aus Weidenrinde und Mohn. Das hilft gegen die Schmerzen, gegen das Fieber, und es sorgt für einen ruhigen Schlaf. Könnt Ihr Euch hinsetzen, was meint Ihr?«
Er stemmte sich mühsam hoch, und ein erstaunlich kräftiger Arm half ihm, sich aufrecht zu halten. Der Rand eines Bechers berührte seine Lippen. Er öffnete den Mund, trank gehorsam und verzog das Gesicht. Gallebitter. Dann wurde er behutsam wieder zurück in die Kissen gebettet.
Er hörte Stoff rascheln und schaffte es mit einiger Anstrengung, noch einmal die Augen zu öffnen. Die Nonne hatte sich erhoben und stand neben dem Bett, die Hände in den weiten Ärmeln ihres Habits.
»Ruht Euch aus«, sagte sie. »Ein paar Stunden Erholung, und die Welt ist gleich ein gutes Stück heller. Ein Bote ist schon nach Freiburg unterwegs, um Eure Familie zu benachrichtigen, damit sie sich keine Sorgen mehr um Euch machen muss.«
»Danke.« Er schluckte. »Vergelt's Gott, Schwester. Darf ich … darf ich wissen, wie Ihr heißt?«
Sie lächelte und verneigte sich leicht.
»Fidelitas«, sagte sie. »Ich bin die Kräutermeisterin von Frauenalb. Dominus vobiscum, Herr Stöcklin. Schlaft gut.«
Sie drehte sich um und war im nächsten Moment mit leisen Schritten durch die Tür verschwunden.
Zwei Monate gingen ins Land; es war ein ausgesprochen nasser Frühling. Auch in den letzten Tagen hatte es fast ununterbrochen geregnet. Doch jetzt hoben sich endlich die Wolken, die wie ein schwerer grauer Mantel über dem Albtal hingen, und die Sonne kam heraus. Der Himmel am Horizont zeigte ein verwaschen bleiches Blau, hoffnungsvoll wie das junge Laub an den Bäumen, das den nahenden Sommer ankündigte.
Fidelitas von Frauenalb stand auf dem Friedhof des Klosters; er lag in kleinem Abstand von der Kirche – immer noch dicht genug bei den lebenden Schwestern, dass die sterblichen Überreste der Nonnen, die hier zur Ruhe gebettet worden waren, ein Teil der Gemeinschaft blieben. Jedes Grab trug auf einem schlichten Stein den Namen der Frau, die hier der Auferstehung entgegenschlief.
Auf dem Stein des Grabes zu ihren Füßen war der Name Agatha zu lesen, darunter das Geburts- und das Sterbedatum 1553. Sechsunddreißig Jahre hatte Agatha in Frauenalb gelebt, erst als Postulantin, dann als Novizin und nach den ewigen Gelübden als Schwester unter Schwestern. Sie hatte vor Fidelitas dem Kloster erst als Infirmarin und zuletzt als Kräutermeisterin gedient; von ihr hatte die jüngere Nonne alles gelernt, was sie heute über Medizin und die Heilung von Kranken mit den Pflanzen wusste, die in den Klostergärten wuchsen. Fidelitas hatte Agatha fast ebenso sehr geliebt wie die Ehrwürdige Mutter Scholastika, die ihr in Frauenalb ein Zuhause gegeben hatte, nachdem sie mit noch nicht einmal zehn Jahren hierhergekommen war, als Oblate in einem Pferdewagen, möglichst weit außer Sicht verfrachtet von einem Vater, der nicht bereit war, sie öffentlich als seine Tochter anzuerkennen.
Fidelitas' ewige Profess hatte Mutter Scholastika nicht mehr miterleben dürfen, und die nächste Äbtissin, Catharina von Remchingen, war dem Schützling ihrer Vorgängerin mit Misstrauen und instinktiver Abneigung begegnet. Als die Gräfin Johanna von Eberstein – Mäzenin des Klosters und Mitglied des Adelsgeschlechts, von dem das Kloster im zwölften Jahrhundert gegründet worden war – vor fünf Jahren darauf bestanden hatte, Fidelitas als private Pflegerin auf eine Reise mitzunehmen, war sie bei der Mutter Oberin auf bemerkenswert wenig Widerstand gestoßen.
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