Fidelitas lächelte. »Wegen Margaretha, meint Ihr? Keine Sorge – sie macht sich sehr gut. Außerdem ist sie die geborene Gärtnerin. Was sie sät oder pflanzt, das gedeiht, und sie hegt jeden Setzling so liebevoll wie eine Mutter ihr Neugeborenes.«
»Dann hat sie endlich ihren Platz in unserer Gemeinschaft gefunden?« Die Äbtissin betrachtete sie aufmerksam. »Ich muss sagen, das erleichtert mich. Mir ist schon aufgefallen, dass wir in den letzten Monaten weniger zerbrochenes Essgeschirr und weniger haarsträubende Missgeschicke zu beklagen hatten. Das tut dem lieben Kind sicher so gut wie uns allen. – Aber deswegen habe ich dich nicht hergerufen.«
Sie faltete die Hände auf dem Tisch vor sich.
»Wie würdest du das Befinden von Herrn Stöcklin einschätzen? Ist er gesund genug, um nach Hause zurückzukehren? Er hat mich gestern aufgesucht, und mir scheint, er ist ein wenig ungeduldig.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Fidelitas nickte. »So lange von daheim entfernt und von seinen Lieben getrennt zu sein, das muss ihm schwerfallen.«
»Richtig. Obendrein macht er sich Sorgen um seine Geschäfte. Er hat mir gegenüber erwähnt, dass sein Tuchhandel in Freiburg im Moment von seiner Mutter geführt wird, und er brennt darauf, ihr die … äh … Zügel wieder aus der Hand zu nehmen. So schnell wie möglich.«
In den Augen der Äbtissin funkelte ein kleines, ironisches Licht, und plötzlich hatte Fidelitas eine ziemlich genaue Ahnung davon, wie sie sich die Mutter des Kaufmannes vorstellen musste. Vermutlich kam der Gevatterin Stöcklin die lange Abwesenheit ihres Sohnes durchaus gelegen … und der fürchtete nun, dass sie die Herrschaft ganz an sich riss.
»Das Bein ist gut verheilt«, erklärte sie. »Ein wenig empfindlich vielleicht, und er sollte es besser noch nicht allzu lange belasten, aber er ist gewiss reisefähig.«
»Schön.« Die Äbtissin wirkte zufrieden. »Dann können wir ihn wohl ziehen lassen.«
Fidelitas neigte den Kopf. »War das alles, Ehrwürdige Mutter?«
»Nicht ganz.« Die Äbtissin lehnte sich zurück und musterte sie scharf. »Er hat mich um einen Gefallen gebeten. Offenbar hast du mit deinen Kenntnissen und deiner Pflege großen Eindruck auf ihn gemacht. Und jetzt wünscht er sich, dass du ihn nach Freiburg begleitest.«
Fidelitas fuhr zusammen.
»Ich? Aber was soll ich denn in Freiburg?«
»Herr Stöcklin hat eine kranke Frau«, meinte Katharina von Bettendorf gelassen. »Sie ist seit Jahren schwächlich, und kein Medikus konnte bislang dauerhaft eine Besserung ihres Zustandes herbeiführen. Er hofft, dass du dank deiner Erfahrung die rechten Kräuter und Heilmittel findest, um ihr zu helfen.«
Fidelitas spürte, wie sich ihr Rückgrat versteifte. Die bloße Vorstellung, das Kloster zu verlassen, bereitete ihr fast körperliche Schmerzen. Aber dann erinnerte sie sich an die rheumatischen Beschwerden, unter denen die Äbtissin regelmäßig litt, und griff danach wie nach einem rettenden Strohhalm.
»Wenn Eure Hand- und Kniegelenke sich wieder fiebrig entzünden«, gab sie zu bedenken, »wer sorgt dann für Euch?«
Katharina von Bettendorf lächelte leicht ironisch; Fidelitas begriff, dass ihre Finte durchschaut worden war.
»Deine Lager sind gut gefüllt und deine Aufzeichnungen leicht verständlich. Unsere Infirmarin Schwester Maria Curatia kennt sich außerdem genügend mit der Kräuterkunde aus, um dich zu vertreten. Sollten meine unerfreulichen Gelenkschmerzen zurückkommen, weiß sie, wo sie deinen Weidenrindenextrakt findet.«
»Herr Stöcklin könnte mir die Anzeichen der Krankheit beschreiben, und ich könnte ihm eine passende Kräutermischung mitgeben.« Es war der letzte Versuch, dem Unvermeidlichen zu entgehen.
Die Äbtissin legte die Fingerspitzen aneinander und musterte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Ohne seine Frau je untersucht zu haben?«, fragte sie milde. »Ohne genau zu wissen, was ihr fehlt? Das wäre doch sicher ein wenig fahrlässig, meinst du nicht?«
Fidelitas biss sich auf die Lippen. »Natürlich, Ehrwürdige Mutter.«
»Überdies hat Herr Stöcklin dem Kloster eine stattliche Summe angeboten, wenn wir bereit sind, für – sagen wir – fünf oder sechs Wochen auf dich zu verzichten. Das sollte dir genügend Zeit geben, um die Natur ihrer Krankheit gründlich genug zu studieren und mit Gottes Hilfe das rechte Mittel zu finden, das sie wieder gesund macht. Immer gesetzt den Fall, ein solches Mittel gibt es.«
»Was ich nicht versprechen kann.« Fidelitas seufzte. Sie erkannte den in beharrliche Freundlichkeit gekleideten Befehl mehr als deutlich. »Es ist Euer Wunsch, dass ich nach Freiburg gehe.«
»Ganz recht. Herr Stöcklin wird übermorgen abreisen; wir stellen ihm einen Wagen zur Verfügung und werden ihm ein paar kräftige Knechte zur Begleitung mitgeben, damit er heil in Freiburg ankommt. Und du ebenfalls.«
Der Blick der Äbtissin wurde sanft.
»Keine Sorge – Maria Curatia wird sich auch um Schwester Margaretha kümmern.« Ihre Lippen kräuselten sich humorvoll. »Aber selbst wenn es uns gelingt, deine Abwesenheit ohne nennenswerte Zwischenfälle zu überstehen, werden wir uns sehr freuen, dich nach erfüllter Aufgabe daheim willkommen zu heißen.«
»Genauso wie ich, Ehrwürdige Mutter.« Fidelitas verneigte sich und ging hinaus, den Kopf gesenkt.
Bis zur Terz war es noch eine knappe halbe Stunde. Sie stellte fest, dass es sie nicht in die Kirche zog, um für eine sichere Reise zu beten. Stattdessen verließ sie das Hauptgebäude, eilte durch den Kreuzgang und am Friedhof vorbei und hatte endlich ihren geliebten Kräutergarten erreicht.
Margaretha war nirgendwo zu sehen, und in diesem Moment empfand Fidelitas große Dankbarkeit dafür. Sie wollte keinerlei Fragen beantworten oder gar die junge Novizin beruhigen müssen – denn die würde bei der Aussicht, wochenlang ohne ihre Lehrmeisterin auskommen zu müssen, vermutlich in Panik geraten. Und sie war selbst schon panisch genug.
Erinnerungen an ihren letzten »Ausflug« in die Welt stürmten auf sie ein. Auch damals hatte sie ihrer Äbtissin gehorcht und war fortgegangen, um eine Kranke zu pflegen und ihr Leiden zu lindern – und dadurch war sie in ein schreckenerregendes Chaos aus Verschwörungen, Mord und Totschlag geraten, das sie sich zuvor niemals hätte träumen lassen.
Sie hatte die Leiche eines vergifteten jungen Mannes entdeckt und ausgerechnet gemeinsam mit einem protestantischen Professor aus Tübingen versucht, das gefährliche Netz aus Lügen und Intrigen zu entwirren, das rings um sie her gewoben worden war. Sie war sogar niedergeschlagen, betäubt und verschleppt worden. Und noch heute dankte sie ihrem Schöpfer bei jedem Gebet, dass sie trotz allem lebend und mehr oder weniger unversehrt in die Sicherheit des Klosters und zu ihren Schwestern hatte heimkehren dürfen.
Sie hob die Augen zum Himmel. Nachdem die Wolken über die bewaldeten Hügel davongezogen waren, war er jetzt von durchsichtiger Klarheit, und die Kräuter in den Beeten noch nass von Regen und Tau. Der Duft nach frühem Thymian, Frauenmantel, Rosmarin, Beinwell und Salbei stieg rings um sie her auf wie eine balsamische Wolke und besänftigte ihre innere Unruhe.
Fidelitas atmete tief durch und schloss die Augen.
Adiuva me, Domine, dachte sie. Geh den Weg nach Freiburg an meiner Seite. Und bring mich danach schnell wieder zurück nach Hause.
(14. Mai A. D. 1555)
Es scheint, als hätte ich mich zu früh gefreut.
Zwar ist mir der Überfall auf den dummen, vertrauensseligen Stöcklin wie ein unverhofftes Geschenk des Schicksals in den Schoß gefallen, aber genutzt hat er mir nichts. Die Räuber haben ihm zwar seine Waren abgenommen, doch bedauerlicherweise haben sie versäumt, ihn umzubringen, und er ist geflüchtet wie der Hase vor dem Fuchs. Dabei hat er sich ein Bein gebrochen, aber anstatt zu sterben, ist er ausgerechnet in einem Kloster gelandet, wo die frommen Frauen ihn wieder gesund gepflegt haben.
Читать дальше