Rückblickend auf das Geschehene kann ich nur noch mit Entsetzen auf das schauen, was das Ganze bei Levin bewirkt. Er fühlt sich verantwortlich für den Verlust des Vaters. Er gibt sich die Schuld. Hätte er diese Fotos nicht gemacht, wäre sein Papa noch da.
Überall muss er Fragen nach den Fotos beantworten. Das Kind ist klug genug (siehe die zornige Aussage bei seiner Schulleiterin) zu begreifen, dass dem Papa hier etwas „Böses“, „Unerlaubtes“, „Schlimmes“ unter-stellt wird. Noch viel schwerer wiegt diese Tatsache, weil alle für ihn völlig unsinnige und überflüssige Fragen stellen. Er kann damit nichts anfangen. Und dann wundert sich eine Anwältin, wenn er schweigt. Noch schlimmer, sie setzt das Schweigen gleich Bestätigung.
Kann dieses Kind wirklich noch unbeschwert eine gesunde Einstellung zur Geschlechtlichkeit und zur Sexualität entwickeln? Wird Levin später, nach diesen sich einbrennenden Erkenntnissen zu seinen Erlebnissen einer Frau ohne Misstrauen begegnen können, vor allem wenn er an die eigene Mutter denkt?
Was hat die gegnerische Anwältin, eigentlich in den diversen Arbeitsgruppen der Bundesministerien gelernt? Hat sie zugehört oder nur einen Anwesenheitsschein ausgefüllt? Wer? Wer hat unseren Sohn in den letzten Monaten missbraucht? Wer missbraucht unseren Sohn für seine eigenen Ziele? Warum gibt es keinen Paragrafen, der ein solches kinderschädigendes furchtbares Verhalten straft?
Es gibt ihn! Nur müsste man ihn anwenden.
Montag 02.07.2012
noch 96 Stunden
Doch zurück in den Urlaubsort. Heute steht Binz auf der Tagesordnung. Wir fahren los, die Kinder toben am Strand und machen sich so nass, dass wir für unseren Sohn ein T-Shirt kaufen müssen. Meine Partnerin geht zur Bank und kommt geschockt wegen der hohen Abbuchung fürs Haus zurück. Ich beruhige sie, dass die Kosten für den Urlaub doch bei mir liegen. Ihre Sorge gilt jedoch nicht den hohen Kosten, sondern ihrer Mutter. Was soll sie denn der Mutter sagen, wenn sie nicht genügend Geld zum Einkaufen im Outlet Center hat. Sie kann sich doch nicht blamieren und nein sagen, wenn ihre Mutter etwas für sie aussucht. Es ist wie früher, als wir uns kennenlernten. Mama flog mit ihr in den Urlaub. Da wurde dann von der Toilette des Hotelzimmers aus mit mir telefoniert, weil Mama nebenan im Bett lag und Zeitung las. Da wurde beim Strandspaziergang mit der Mama das Handy abgestellt, damit diese nicht mitbekam, dass eine SMS kam. Da wurde sogar ganz brav mit Männern ein Kaffee getrunken, weil die Mama diese für ihre Tochter als geeignet hielt.
Damals fand ich diese Heimlichkeiten lustig und wir haben später oft noch darüber gelacht. Damals kannte ich aber ihre Abhängigkeit von ihrer Mutter noch nicht. Was ich als amüsantes Verheimlichen einer neuen Liebe hielt, war wohl doch schlichte, von „Angst“ gekennzeichnete Abhängigkeit. Nein, die Mama darf nicht erfahren, dass ihr Töchterlein ein Problem hat. Das erfolgreiche Töchterchen, das die Karriereleiter nach oben geklettert ist, darf bei der Mama keine Schwäche zeigen. Es ist schlimm genug, dass sie immer noch nicht in der „von Mama als einzig wahr angesehenen“ Partei Karriere gemacht hat. Und noch schlimmer ist es, dass sie „so einen“ Partner hat, der noch dazu kritisch gegenüber der einzig wahren Partei ist. Von Binz aus fahren wir weiter nach Selin an den Strand. Die beiden Frauen setzen sich auf die Brückenterrasse zum Kaffee. Ich bleibe mit den Kindern erst einmal am Strand, weil die beiden lieber im Sand buddeln als auf einem Stuhl zu sitzen. Ab und zu winken die Mamas, werfen uns Kusshändchen zu und genießen die Sonne.
Später gehe ich mit den Kindern hoch und dann erst einmal weiter auf die Landungsbrücke bis zur „Nemo-Tauchglocke“. Als wir von der Glocke zurücklaufen, kommt mir meine Partnerin entgegen, strahlt mich an und lässt sich erzählen was wir da denn alles gesehen haben. Unser Sohn erzählt wie immer technisch und das Mädchen mehr das Erlebte.
„Was würdest du ohne deinen Papa machen, was der dir alles zeigen kann“.
Wir sitzen noch eine Weile zu fünft auf dem Terrassenteil zusammen, lachen, scherzen, planen den nächsten Tag. Später auf der Rückfahrt, die sie verschläft, sehen ihre Freundin und ich einen Erlebnis-Bauernhof. Wir können ihn in den nächsten Tagen besuchen. Den Abend prägen wieder Beziehungen und Haus. Doris fragt mich nach meiner Tätigkeit und wie lange ich noch arbeiten müsse. Ich antworte was Alter und Arbeitszeit betrifft sehr verschwommen. Für mich völlig überraschend antwortet Christel was mein Alter angeht das erste Mal ehrlich. Später in der Küche spreche ich sie darauf an, dass ich nicht wisse was sie vorher zu ihrer Freundin gesagt habe und mich deshalb nicht äußere. Meine Partnerin und ich verstehen uns bei diesen Fragen bisher blind und sind aufeinander abgestimmt. Deshalb wundere ich mich, dass sie plötzlich mein richtiges Alter angibt und auch erklärt, dass ich in Pension gegangen bin. Bis dahin hat sie mich überall und auch vor ihrer Familie fünf Jahre jünger gemacht.
Eine peinliche Wendung nimmt das Gespräch, als die Freundin über den vermissten Jungen auf Amrum erzählt. Bei diesem Thema wird sie hysterisch. Sie spricht ständig von dem armen missbrauchten Kind. Als die Todesursache des Jungen einen Tag später bekannt wird, reagiert sie noch hysterischer. Die Gespräche werden langsam etwas nervig. Es ist ja zu ertragen, dass die Freundin wie sie sagt, in regelmäßigen Abständen zu ihrer Wahrsagerin geht. Ich kann notfalls auch so mancher Geschichte über Geister, übersinnliche Wahrnehmung und Telepathie etwas abgewinnen. Aber so hysterisch auf eine Meldung zu reagieren, die noch nicht einmal richtig ist, geht mir schon gegen den Strich. Aber wir sind im Urlaub, und in einigen Tagen sehen wir uns wieder nur in längeren Abständen. Verwundert bin ich jedoch über die Reaktionen meiner Partnerin. Die Frau, die alle Probleme nüchtern, systematisch und planvoll angeht, die nur wenig dem Zufall überlässt, stimmt ein in diesen esoterischen „Unsinn“. Heute muss ich annehmen, dass sie wusste, dass die Freundin vorläufig ihre wichtigste Verbündete sein würde. Später, wenn man den Partner erst mal in polizeilicher Obhut hat, kann man ja wieder mehr Sinn für Realismus zeigen.
Dienstag, den 03.07.2012
noch 72 Stunden
Auch an diesem Morgen beherrscht der Tod des Jungen auf Amrum das Gespräch. Obwohl das Kind beim Spielen zu Tode kam, thematisiert die Freundin das Problem. Die Frage der Freundin, was ich mit Menschen tun würde, die Levin Gewalt antun, habe ich so beantwortet wie ich denke. Für das, was ich diesem Menschen antun würde, ginge ich ins Gefängnis. Nach langem Frühstück, ausschweifenden Gesprächen, fahren wir zum Einkaufen und danach zum Strand. Die Kinder spielen wunderschön am Wasser, wir können relaxen und machen aus, dass wir am letzten Abend hier essen wollen. In dieser Nacht fühlen wir, meine Partnerin und ich uns beim Schlafengehen endlich mal wieder frei. Sie sagt mir wie sehr sie mich liebe und dass es ihr Leid tut, es nicht immer so zeigen zu können. Im Rückblick auf ihre Reaktion auf meine Frage, ob sie früher ein schlimmes Erlebnis hatte, gewinnt eine Beobachtung zu ihrem Schlafverhalten, die ich seit einigen Monaten mache, eine andere Bedeutung. Zuerst habe ich beleidigt reagiert und einen anderen Mann hinter ihren „Träumen“ vermutet, zumal sie auch Namen rief. Nach einigen Malen habe ich sie morgens damit konfrontiert. Sie reagierte empört und wollte nicht darüber reden. Schlafforscher der Universitäten in Stanford und Minneapolis haben solche Verhaltensmuster untersucht und der Schlafforscher Schenck von der „University of Minnesota“ veröffentlichte im Fachmagazin „Sleep“ Theorien zur Erklärung. Oft können sich die Betroffenen an nichts mehr erinnern. Mit diesem Wissen konnte ich mit ihrem Verhalten umgehen, zumal sie das mittlerweile wohl selbst auch schon einige Male bemerkt hatte.
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