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Sammelsurium
Fünf-Minuten-Lektüre
Renate Handge
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Personen und Handlungen sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2020 Herzsprung-Verlag
Mühlstr. 10, 88085 Langenargen
Alle Rechte vorbehalten.
Taschenbuchauflage erschienen 2015
Lektorat und Herstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM
Titelbild: Angela Rohde / fotolia.de lizenziert
ISBN: 978-3-99051-025-4 Taschenbuch
ISBN: 978-3-96074-292-0 E-Book
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„Man liebt das, wofür man sich müht,
und man müht sich für das,
was man liebt.“
Erich Fromm 1900 – 1980
deutsch-amerikanischer Psychoanalytiker
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Kopfgeburten
Computerseele
Gestohlene Worte
Freiheit fur Anori
Vom Luxus, sich Probleme leisten zu können
Haiyan – Der Sturmvogel
Espero, Kind der Hoffnung
Asylant
Ich greife zum Zerstäuber
Konflikte
RECHTSstreit
Das Licht der Freiheit
Meine geliebte Shisha
Recht und Gerechtigkeit
Karriere ...
... Knick
Das Blutbad
... Naturschutz
Schwimmen
Kapt’n Blaubär
Sonntag
Sommergäste
Rotkäppchen & seine Freunde
Wartezimmer
Eine Liebesgeschichte
Schwiegermuttergebäck
Abschied
Der vergessene Friedhof
Bach-Musik
Winter am Baldeneysee
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Meine grauen Zellen signalisieren mir Empfängnisbereitschaft! Unerwartet brechen diese Signale über mich herein. Sie sind an keinen Zyklus gebunden. Es kann überall und jederzeit passieren. Nie bin ich vor ihnen sicher. Nirgends kann ich mich vor der Plötzlichkeit dieses Geschehens verstecken oder gar davonlaufen.
Der Kopf bleibt, was er ist und wo er ist, nämlich ein feinsinniger Augenblickgedankenfänger auf meinem Hals.
Wie Samenzellen zur Eizelle wimmeln, um sie zu befruchten, so strömen unzählige Reize von außen oder aus meinem Inneren kommend durch mein Nervensystem mit dem Ziel der geistigen Befruchtung.
In solchen magischen Momenten ist mein Wahrnehmungsvermögen aufs Äußerste sensibilisiert!
Ein aus tausend unsichtbaren Fäden fein und eng gewobenes Netz fängt jeden noch so kleinen Reiz auf, der meine fünf Sinne stimuliert. Ein unüberschaubares Gewimmel von Gefühlen, Gedanken und Ideen überflutet meine grauen Zellen, bis sich die Empfindungen, Geistesblitze und Impulse mit der größten Anziehungskraft im Gehirn festsetzen.
Die Befruchtung der grauen Zellen ist erfolgt.
Mein Kopf ist schwanger!
Ob die Schwangerschaft am Ende von Erfolg gekrönt sein wird oder in einem Desaster endet, ist in diesem Stadium vollkommen ungewiss. Zu unscharf, vage, schemenhaft, konfus und konturlos ist der erste Zell- bzw. Buchstabenhaufen, der sich gebildet hat.
In dieser Anfangsphase schwingt die Überlegung mit, ob ich das in mir aufkeimende, prosaische oder lyrische Werk der Dichtkunst austragen oder verwerfen soll.
Entscheide ich mich gegen diesen Embryo in meinem Kopf, durchtrenne ich einfach die Gedankenfäden und breche meinen Gedankenflug ab. Der Kopf ist wieder frei für andere Dinge.
Habe ich mich für das Weiterleben des noch winzigen Ideenpflänzchens entschieden, nistet es sich als Keimling unweigerlich in meine grauen Zellen ein. Die schriftstellerische Arbeit beginnt. Gedankenverloren gebe ich mich in den nächsten Tagen, Wochen oder Monaten nicht enden wollender Gedankenakrobatik hin.
Von Gedankenfreiheit und Gedankenfülle berauscht, heißt es jetzt dichten, kreieren, skizzieren, konzipieren, vor-, um-, durch- und ausformulieren, präzisieren, fabulieren, fantasieren, sinnieren, aus- und durcharbeiten, entwerfen, verwerfen, drechseln, ausfeilen, stylen und designen, verknappen!
Nachsitzen!
Hierzu stehen mir kümmerliche sechsundzwanzig Grundbuchstaben, drei Umlaute und das Eszett zur Verfügung, und dennoch reichen sie aus, um das anfängliche Chaos all meiner Emotionen, Eingebungen und Intuitionen zu ordnen und in Worte zu fassen. Dieser Umstand macht mich auf geheimnisvolle Weise bedürfnislos. Nichts weiter ist notwendig, als diese alles in allem gerechneten dreißig Zeichen, mit denen jede Geschichte erzählt und die ganze Welt erklärt werden kann.
Buchstaben formen sich zu Worten, Sätze entstehen, Zeile auf Zeile folgt, Absätze bilden sich heraus, Seiten füllen sich.
Das Gedankengebäude nimmt Form an!
Zwischendurch wieder Buchstabensalat. Noch mal von vorn! Ich verwerfe, erfinde neu, verwerfe und erfinde wieder neu. Ich hadere mit meinem Fötus im Kopf und er mit mir. Ich leide! Er auch!
Vielleicht hilft Buchstabensuppe.
Meine Kopfschwangerschaft durchlebt ansonsten alle Szenarien einer Bauchschwangerschaft.
Ängste, trotz aller fein gewobenen Gedankenfäden eine Missgeburt hervorzubringen, treiben mich um. Eigenartige Esszwänge überfallen mich. Mal esse ich ein Glas saure Gurken leer, dann genieße ich drei Stücke Sahnetorte hintereinander oder verschlinge Unmengen an Eiscreme und Schokolade. Unzählige Gummibärchen hauchen zwischen meinen Zähnen ihr klebriges Leben aus. Mein Kaffeekonsum übersteigt das gesunde Maß.
Natürlich bleibt das Gefühl nicht aus, dass der Kopf anschwillt und es im Magen drückt. Schlaflosigkeit treibt mich um des Nachts. Gereiztheit ist an der Tagesordnung.
Tritte des immer größer werdenden Balgs in meinem Kopf von innen gegen die Gehirnschale bringen mich schier zur Verzweiflung.
Es besteht durchaus die Gefahr, irgendwelchen Drogen zu verfallen. In diesen anderen Umständen, in denen ich mich befinde, könnte unter Umständen ein wenig Gehirndoping die ausgefallensten, verrücktesten, tollkühnsten und poetischsten Wortschöpfungen aus meinen grauen Zellen herauskitzeln, halluziniere ich, verwerfe aber den Gedanken aus den unterschiedlichsten Gründen sogleich wieder.
Notizbücher und Stifte werden zu meinen ständigen Begleitern. Sie befinden sich in Handtaschen, im Auto, neben dem Bett, im Badezimmer, Küche und Wohnzimmer, kurzum überall dort, wo ich gehe, stehe oder liege, damit ich gewappnet bin, eine plötzliche Eingebung jederzeit skizzieren zu können.
Ich bin der Faszination der Buchstaben verfallen. Ich bin ihnen hörig!
In eine missliche Lage bringt mich zuweilen der Umstand, dass mich während meiner anderen Umstände unvorhersehbare Reize für ein weiteres Schreibprojekt überfallen und Gehirnzellen für sich beanspruchen.
Jetzt bin ich schwer in der Bredouille.
Was mache ich mit dem neuen Keimling in meinem Kopf? Soll ich an zwei schriftstellerischen Werken nebeneinanderher arbeiten?
Hilfe! Reizüberflutung! Kuddelmuddel entsteht in meinem Kopf. Stechende Kopfschmerzen veranlassen mich zu einer Gedankenpause.
Im schlimmsten Falle geistern sogar drei oder vier Geschichten in meinem Gehirnkasten herum. Was ist zu tun? Ich fasse kurz entschlossen einen Entschluss. Genau! Die erste Kopfschwangerschaft wird bis zur Geburt ausgetragen. Die anderen Embryos verharren solange in einer Keimruhe, bis von mir der Impuls ausgeht, weiter heranzureifen.
Mal mutiere ich zum schnellen Brüter.
Gesteuert vom Gehirn schießen Reize in die Nervenbahnen meines Körpers, die meine zehn Finger dazu befähigen, unangestrengt und mühelos literarische Ergüsse in den Computer einzugeben. Fein ziselierte Buchstabengirlanden schmücken meine poetischen Fantasiegebilde. Mit Leichtigkeit wird das dichterische Werk vollendet. Die Niederkunft naht. Nach einer einfachen Geburt umrankt mein Herz ein seltsames Glücksgefühl. Zärtlich streicheln meine Augen die zur Welt gebrachten Zeilen, die sich zu einem makellosen Text zusammenfügen.
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