Wann und wo ihm diese Offenbarung kam, ist unbekannt; aber als er am nächsten Abend wieder erschien, machte er einen etwas betretenen, fast verschämten Eindruck und blickte unruhig um sich. Als die Teestunde schlug und der Diener erschien, ergriff Madame Anserre mit holdem Lächeln die Platte und suchte ihren jungen Freund mit den Augen. Er war aber so schnell entflohen, dass er nicht mehr zu sehen war. Da stand sie auf und ging ihm entgegen. Sie fand ihn bald in der äußersten Ecke des Landwirtschaftlichen Zimmers. Er hatte seinen Arm in den ihres Gatten gelegt und drang ängstlich in ihn, welche Mittel zur Vertilgung der Reblaus die besten wären.
– Mein lieber Herr, kam Madame Anserre an, würden Sie so liebenswürdig sein, diesen Kuchen zu schneiden?
Er wurde rot bis an die Ohren, stotterte ein paar Worte und verlor den Kopf. Herr Anserre erbarmte sich seiner und wandte sich zu seiner Frau.
– Meine Teuerste, sagte er, es wäre sehr schön, wenn du uns nicht stören wolltest: wir sprechen über Landwirtschaft. Lass den Kuchen doch von Baptist schneiden.
Seit dem Tage schnitt kein Mensch mehr den Kuchen im Hause Anserre.
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Die Küste von Dieppe bis Le Havre bildet ein ununterbrochenes Steilufer von etwa hundert Meter Höhe, das senkrecht wie eine Mauer zum Meere abfällt. Von Zeit zu Zeit wird diese starre Felslinie plötzlich unterbrochen, und ein kleines, enges Tal mit steilen Hängen, die mit kurzem Gras und Meerbinsen bedeckt sind, kommt von der bebauten Hochfläche herab und mündet schluchtartig, wie das Bett eines Gießbachs, in das Ufergeröll. Diese Täler sind von der Natur selbst geschaffen. Ihre Ränder sind von den Gebirgsbächen gehöhlt, welche die Reste des stehenden Hochufers fortgespült und den Wassern ein Bett bis zum Meere gegraben haben, das den Menschen jetzt als Weg dient. Bisweilen klemmt sich ein Dorf in den engen Talkessel, in dem der volle Seewind sich fängt.
Ich habe einen ganzen Sommer in einem dieser Küsteneinschnitte verbracht; ich wohnte bei einem Bauern, dessen Haus der See zugekehrt lag, sodass ich von meinem Fenster aus zwischen den grünen Talhängen ein großes Dreieck dunkelblauen Wassers erblickte, das oft von weißen Segeln wimmelte, die von der Sonne getroffen in der Ferne vorüberzogen.
Der Weg zum Meere lief auf der Sohle der Schlucht und versank dann plötzlich zwischen zwei senkrechten Mergelwänden wie ein tiefeingeschnittenes Geleise, um alsdann auf einen schönen Kiesplatz zu münden, dessen Steine durch das Jahrhunderte lange Spiel der Wogen kugelrund abgeschliffen und poliert waren. Diese tiefe Hohle hieß der »Schäfersprung«. Die Geschichte, der sie ihren Namen verdankt, ist folgende.
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Früher, so sagte man mir, herrschte in diesem Dorfe ein junger fanatischer und gewalttätiger Priester. Voll Hass auf alle, die nach den Naturgesetzen und nicht nach den Gesetzen seines Gottes lebten, war er aus dem Seminar gekommen. Er war von unbeugsamer Strenge gegen sich selbst und von unversöhnlicher Unduldsamkeit gegen andere. Eines vor allem erfüllte ihn mit Wut und Abscheu: die Liebe. Hätte er in Städten, im Schoße der raffinierten Kulturmenschheit gelebt, welche die brutalen Akte, die uns die Natur gebietet, in den zarten Schleier des Gefühls und der Zärtlichkeit zu hüllen weiß, hätte er im Halbschatten der großen, eleganten Kirchenschiffe im Beichtstuhl gesessen und die duftenden Sünderinnen gehört, deren Vergehen sich durch die Anmut ihres Falles und die ideale Einkleidung der höchst materiellen Umarmung zu mildern scheint, so wäre jene rasende Empörung, jene zügellose Wut vielleicht nicht über ihn gekommen, wenn er der unsauberen Umarmung des Gesindels im Schlamm eines Straßengrabens oder auf dem Stroh einer Scheune gegenüberstand.
Er hielt sie durchaus für Vieh, diese Menschen, welche die Liebe nicht kannten, und sich nach Art der Tiere vereinigten; er hasste sie wegen ihrer Seelen-Rohheit, wegen der eklen Befriedigung ihrer Lust, wegen der widerlichen Freude, die sie noch als Greise empfanden, wenn sie von diesen Dingen sprachen.
Vielleicht auch ward er selbst wider Willen von ungestillten Gelüsten gepeinigt und durch den Kampf seines keuschen, aber despotischen Geistes mit seinem widerspänstigen Körper dumpf gequält.
Denn alles, was auf das Fleisch Bezug hatte, empörte ihn, brachte ihn außer sich, und seine wilden Predigten voller Drohungen und wütender Anspielungen riefen das höhnische Lachen der Dirnen und Burschen hervor, die sich durch die Kirche hin verstohlene Blicke zuwarfen. Und wenn die Pächter in ihrer blauen Bluse und die Pächtersfrauen in ihrem schwarzen Mantel Sonntags aus der Messe heimkehrten und auf ihre Hütte zusteuerten, deren Schornstein lange Strähnen bläulichen Rauches durch die Luft wob, dann sagten sie sich wohl: »Darin versteht er keinen Spaß, der Herr Pfarrer.«
Einmal nun geriet er um nichts so außer sich, dass er fast die Besinnung verlor. Er wollte einen Kranken besuchen. Als er den Pachthof betrat, wo der Kranke lag, bemerkte er einen Haufen Kinder aus dem Hause und der Nachbarschaft, die um die Hundehütte herumstanden. Sie rührten sich nicht und blickten mit gespannter und stummer Aufmerksamkeit auf etwas, das am Boden lag. Der Priester trat näher und erblickte die Hündin, die gerade warf. Sie lag vor ihrer Hütte. Fünf Junge krochen bereits um die Mutter herum, die sie zärtlich leckte und gerade in dem Augenblick, wo der Pfarrer seinen Kopf über die Köpfe der Kinder hinausreckte, noch ein sechstes Junges zur Welt brachte. Da fing der ganze Schwarm vor Freude an zu schreien und in die Hände zu klatschen: »Da kimmt noch eins! Da kimmt noch eins!« Es war dies eine Belustigung für sie, eine ganz natürliche Belustigung ohne irgendwelche unreine Beimischung. Sie sahen dieser Geburt zu, wie sie Äpfel hätten fallen sehen. Aber der Mann im schwarzen Rocke erbebte vor Entrüstung und verlor völlig den Kopf. Er erhob seinen blauen Regenschirm und schlug damit wütend auf die Kinder ein. Da liefen sie, was sie laufen konnten. Dann wandte seine Wut sich gegen die niedergekommene Hündin. Er schlug bald mit der Rechten, bald mit der Linken auf sie los, und als das Tier, das an der Kette lag und nicht fortlaufen konnte, sich stöhnend wehrte, trampelte er darauf herum und zertrat es mit seinen Füßen – wobei noch ein letztes Junges zur Welt kam; dann gab er ihm mit dem Hacken den Rest. Den blutigen Körper ließ er inmitten der Neugeborenen liegen, die kläglich piepsend herumtapsten und bereits nach den Brüsten der Mutter suchten.
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