Inzwischen hatten die beiden Mütter ihre allabendlichen vier Partien Piket beendet und die Augen begannen ihnen zuzufallen; sie sehnten sich nach Ruhe.
– Wir müssen die Kinder rufen, sagte die eine.
Mit schnellem Blicke durchflog die andere den Teil des Gartens, in dem die zwei Schattengestalten sich langsam ergingen.
– Lass sie doch noch! riet sie. Es ist ja so schön draußen. Lison kann auf sie warten. Nicht wahr, Lison?
Die alte Jungfer hob unruhig die Augen und antwortete mit ängstlicher Stimme:
– Gewiss, ich werde auf sie warten.
Darauf gingen die beiden Schwestern zu Bette.
Als sie heraus waren, stand Tante Lison auch auf, ließ die angefangene Arbeit samt der Wolle und der großen Nadel auf dem Arme des Lehnstuhls liegen und legte sich mit den Ellenbogen ins Fenster, um die liebliche Nacht zu genießen.
Die beiden Liebenden gingen immer noch über den Rasenplatz, vom Teich bis zur Treppe und von der Treppe bis zum Teiche. Sie drückten sich die Hände und hatten aufgehört, zu sprechen, als wären sie ganz entrückt und bildeten nur noch einen Teil dieses Märchenzaubers, der auf der Welt lag. Jeanne erblickte plötzlich im Fensterrahmen den Schatten der alten Dame, der sich scharf gegen das Lampenlicht abhob.
– Halt, sagte sie stehen bleibend, Tante Lison beobachtet uns.
Jacques blickte auf.
– In der Tat, Tante Lison beobachtet uns.
Sie gingen dann ungestört weiter, wie vorher, und träumten und liebten, wie vorher. Doch das Gras war voller Tau. Es war kühl und sie fröstelten.
– Wollen wir nicht hinein gehen? schlug Jeanne vor.
Jacques nickte und sie gingen wieder ins Haus.
Als sie ins Wohnzimmer traten, saß Tante Lison wieder über ihre Arbeit gebeugt und strickte; ihre kleinen, dürren Finger zitterten ein wenig, wie von Übermüdung.
Jeanne trat näher.
– Wir wollen jetzt zu Bette gehen, Tante.
Das alte Dämchen schlug die Augen auf. Sie waren rot, als hätte sie geweint. Doch Jacques und seine Braut achteten nicht darauf. Der junge Mann merkte nur, dass die dünnen Lederschuhe seines Mädchens von Tau trieften. Ängstlich fragte er:
– Hast du nicht kalt an deinen lieben kleinen Füßchen?
Plötzlich begannen die Finger der alten Tante so heftig zu zittern, dass die Arbeit ihnen entfiel und das Wollknäuel weit über den Boden rollte. Sie verbarg das Gesicht in den Händen und fing an zu weinen; es war ein heftiges, krampfhaftes Schluchzen.
Die beiden Kinder stürzten auf sie zu; Jeanne kniete nieder und nahm ihr die zitternden Hände von den Augen.
– Was ist dir, Tante Lison? Warum weinst du?
– Weil… Weil… stotterte die alte Dame; ihre Stimme schien in Tränen zu zerfließen, und ein kramfhaftes Zittern ging durch ihren Körper, Weil er dich fragte… hast du nicht kalt… an deinen lieben kleinen Füßchen… Das… hat mir nie einer gesagt… mir nie!…
*
Warum freuen wir uns doch so sehr über die erste Lenzsonne? Warum erfüllt uns dieses Licht, das die Erde bescheint, so mit neuem Lebensglück? Der Himmel ist so blau, die Flur so grün, die Häuser so weiß; und unsre Augen fangen diese Farben mit Entzücken auf, um sie in Seelenfreude umzusetzen. Und uns wandelt die Lust an, zu tanzen, zu laufen und zu singen; unsre Gedanken sind so glücklich und leicht; unser Herz weitet sich so zärtlich; wir möchten die Sonne umarmen…
Nur die Blinden sitzen stumpf in den Türen, von ewiger Nacht umfangen. Sie sind ruhig, wie immer, auch inmitten dieses lachenden Frohsinns, und alle Minuten heißen sie ihren Hund, der mit springen und jagen möchte, sich ruhig zu verhalten; sie verstehen ja nicht… Erst wenn sie bei sinkender Sonne am Arm eines jüngeren Bruders oder einer kleinen Schwester ins Haus zurückkehren und das Kind sagt: »Ach, heute war es schön draußen!«, dann antworten sie wohl: »Ich hab’ es wohl gemerkt, dass es schön war; Loulou wollte garnicht stillsitzen«.
Ich kannte einen solchen Menschen, für den das Leben eine der grausamsten Martern war, die sich denken lassen. Er war ein Bauer, der Sohn eines Pächters aus der Normandie. Solange Vater und Mutter lebten, wurde einigermaßen für ihn gesorgt, sodass er nur an seiner entsetzlichen Blindheit zu tragen hatte, aber seit die Alten tot waren, begann sein Martyrium. Eine Schwester nahm ihn zu sich, aber jederman im Hofe behandelte ihn wie einen Bettler, der anderer Leute Brot aß. Keine Mahlzeit verging, bei der man ihm nicht seine Nahrung missgönnte, ihn Faullenzer und Klette schalt; und trotzdem sein Schwager sich seines Erbteils bemächtigt hatte, gab man ihm kaum so viel Suppe, dass er nicht verhungerte.
Sein Gesicht war ganz fahl; zwei große weiße Augensterne waren wie Oblaten hineingedrückt. Er blieb gleichgültig gegen die Scheltworte und so in sich gekehrt, dass man nicht wusste, ob er sie überhaupt empfand. Er hatte ja auch nie ihr Gegenteil kennen gelernt. Seine Mutter hatte ihn immer etwas unsanft behandelt und liebte ihn nicht eben sehr; denn auf dem Lande gilt alles, was unnütz ist, für schädlich, und die Bauern täten es am liebsten den Hühnern nach und brächten, wenn sie könnten, alle Gebrechlichen um.
Sobald er seine Suppe herunter hatte, stand er auf und setzte sich – im Sommer vor die Haustür, im Winter an den Ofen, und von dort rührte er sich nicht mehr bis zum Abend. Er blieb ohne Gebärden, ja ohne Bewegungen sitzen; nur seine Augenlider durchlief oft ein nervöses Zucken, während sie über seine weißen Augäpfel herabfielen. Hatte er Geist, Verstand und deutliches Lebensbewusstsein? Diese Frage legte sich nie einer vor.
So ging es einige Jahre lang. Doch sein Stumpfsinn und mehr noch seine absolute Unbrauchbarkeit erbitterten schließlich seine Angehörigen und er wurde bald zur Zielscheibe des Spottes, zum Märtyrer-Popanz, zur willkommenen Beute der angeborenen Niedertracht und barbarischen Freude seiner brutalen Umgebung. Alle Possen, die seine Blindheit ermöglichte, wurden mit ihm angestellt. Und um sich für das, was er aß, bezahlt zu machen, trieben seine Anverwandten während der Mahlzeit ihren Spott mit ihm und foppten ihn zum Vergnügen der Nachbarn und zur Qual für den Wehrlosen.
Alle Bauern aus der Nachbarschaft erschienen zu diesen Belustigungen; man sagte sich von Tür zu Tür Bescheid, und die Küche des Pachthofes war jeden Tag gedrängt voll. Zunächst setzte man einen Hund oder eine Katze auf den Tisch vor den Teller, aus dem der Unglückliche seine Fleischbrühe löffelte. Das Tier, das die Schwäche des Essers bald heraus hatte, kam sachte herangeschlichen und schleckte in stillem Behagen mit, bis ein zu lautes Zungenschnalzen die Aufmerksamkeit des armen Teufels schließlich erregte: dann machte es sich behutsam davon und wich dem Löffel, mit dem der Blinde planlos vor sich hinschlug, ohne viel Mühe aus.
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