Sie blieb plötzlich stehen, von Tränen überströmt. Die ganze Gegend lag stumm und einsam unter der drückenden Sonnenhitze. Nur die Grillen liessen fortgesetzt ihr einförmiges Gezirpe in dem dürren spärlichen Grase ertönen, welches die Strasse zu beiden Seiten einfasste.
»Setzen Sie sich einen Augenblick«, sagte er. Sie ließ sich von ihm zum Rande des Grabens führen und setzte sich, das Gesicht in den Händen begrabend. Ihre weißen Haare, die in Locken zu beiden Seiten des Gesichtes hingen, wickelten sich auf, aber sie beachtete es nicht; sie weinte weiter zum Herzzerbrechen.
Er blieb ihr gegenüber stehen, unruhig bei dem Gedanken, was er ihr sagen sollte.
»Kommen Sie … Mut!« murmelte er.
»Ich habe Mut«, sagte sie aufstehend. Und indem sie ihre Tränen trocknete, nahm sie ihren Weg wieder auf, wobei das Alter ihren Schritt etwas unsicher machte.
Die Strasse führte etwas weiter hin zu einer grösseren Baumgruppe, unter der einige Häuser versteckt lagen. Man konnte schon von Weitem den regelmässigen zitternden Schlag eines Schmiedehammers auf einem Ambos unterscheiden.
Bald darauf sahen sie zur Rechten vor einem niedrigen Hause eine Karre halten, während unter einem Vordache zwei Männer ein Pferd beschlugen. Herr d’Agreval näherte sich ihnen.
»Ist hier das Gehöft von Peter Benedikt?« rief er.
Einer der Leute erwiderte:
»Nehmt den Weg links, ganz bis zum kleinen Kaffeehause und geht dann ganz rechts, es ist das dritte vom Wege nach Poret, ein Tännchen vorm Tore, nicht zu verfehlen.«
Sie wandten sich links. Sie ging jetzt ganz langsam mit wankenden Knien, während ihr Herz zum Zerspringen klopfte.
Bei jedem Schritt murmelte sie wie im Gebet: »Mein Gott! Mein Gott!« Eine furchtbare Aufregung schnürte ihr die Kehle zu, und sie schwankte auf den Füssen, als wären ihre Sehnen zerrissen.
Herr d’Agreval, vor Aufregung gleichfalls bleich, sagte ihr etwas unwirsch:
»Wenn Sie sich jetzt schon nicht mehr beherrschen können, werden Sie alles sofort verraten. Suchen Sie sich doch zu fassen.«
»Ach wie kann ich das?« seufzte sie. »Mein Kind! Wenn ich denke, dass ich mein Kind sehen werde!«
Sie folgten einem jener kleinen Feldwege, wie man sie so viel sieht, zwischen den Feldern der Gehöfte hindurchführend, beschattet von einer Doppelreihe Buchen zu beiden Seiten der Gräben.
Und plötzlich standen sie vor einem hölzernen Schlagbaum, den eine junge Tanne beschattete.
»Hier ist’s«, sagte er.
Sie blieben stehen und schauten.
Der mit Apfelbäumen bepflanzte Hof war ziemlich groß und dehnte sich bis zu dem kleinen strohbedeckten Wohnhause aus. Gegenüber lag der Pferdestall, die Scheune, der Kuhstall, das Hühnerhaus. Unter einem Ziegeldach standen die Ackerwagen, Karren, Schiebkarren, das Cabriolet. Vier Kühe weideten in dem hohen grünen Grase im Schatten der Bäume, während in allen Winkeln des Gehöftes schwarze Hühner herumtrippelten.
Man hörte nichts; die Tür des Hauses stand zwar offen, aber man konnte im Innern niemand erblicken.
Sie traten ein. Sofort stürzte aus einem Fasse am Fusse eines großen Birnbaumes ein schwarzer Hund hervor und begann ein wütendes Gebell.
Als sie näher kamen, sahen sie an der Mauer des Hauses vier Bienenstöcke mit ihren gelben Strohkuppeln gelehnt.
»Ist jemand hier?« rief Herr d’Agreval, als sie an der Tür standen. Alsbald erschien ein Kind, ein kleines Mädchen von ungefähr zehn Jahren, in Hemd und Leinenröckchen, mit blossen schmutzigen Füssen und furchtsamer trotziger Miene. Es blieb im Türrahmen stehen, als wollte es den Eingang wehren.
»Was wollen Sie?« fragte es.
»Ist Dein Vater da?«
»Nein.«
»Wo ist er?«
»Ich weiß nicht.«
»Und Deine Mutter?«
»Bei den Kühen.«
»Kommt sie bald zurück?«
»Weiß nicht.«
Und plötzlich, als ob sie fürchtete, dass man sie mit Gewalt wegführen werde, sagte die alte Dame in energischem Tone:
»Ich gehe nicht fort ohne ihn gesehen zu haben.«
»Wir werden auf ihn warten, liebe Freundin!«
Als sie zurückgingen, bemerkten sie eine Bäuerin, die auf das Haus zukam und in den Händen zwei blanke Blecheimer trug, in denen sich hin und wieder ein Streifen des grellen Sonnenlichts mit plötzlichem Reflex spiegelte.
Sie hinkte auf dem rechten Fusse und sah in ihrem dunkelbraunen, verwaschenen und von der Sonne fuchsig gewordenen Brusttuch wie eine Magd aus, elend und schmutzig.
»Da ist die Mutter«, sagte das Kind.
Näherkommend sah diese die Fremden unfreundlich und misstrauisch an, ging aber ruhig ins Haus, als hätte sie sie gar nicht bemerkt.
Sie schien alt, das Gesicht runzelig, gelb und rau; eine Art Holzgesicht, wie es die Bäuerinnen oft haben.
»Sagt ’mal, gute Frau«, rief Herr d’Agreval sie zurück, »würden Sie uns nicht zwei Glas Milch verkaufen?«
Sie erschien wieder unter der Tür, nachdem sie die Eimer fortgestellt hatte und sagte mürrisch:
»Ich verkaufe keine Milch.«
»Aber wir sind sehr durstig und die alte Dame hier ist sehr erschöpft. Kann man denn nicht für Geld und gute Worte etwas zu trinken haben?«
Die Bäuerin sah sie misstrauisch und verdrossen an.
»Da Sie nun einmal da sind«, entschied sie endlich, »muss ich Ihnen wohl was geben«, und sie verschwand im Hause.
Hierauf kam zunächst das Kind mit zwei Stühlen heraus, die es unter einen Apfelbaum setzte; ihm folgte die Mutter mit zwei Gläsern schäumender Milch, welche sie den Fremden reichte. Sie blieb bei ihnen stehen, als wollte sie sie überwachen und ihre Absichten ergründen.
»Ihr kommt von Fecamp?« fragte sie.
»Ja, wir sind für den Sommer in Fecamp«, antwortete d’Agreval. Dann fuhr er nach einer Pause fort: »Könntet Ihr uns nicht alle Wochen einige Hühner verkaufen?«
Die Bäuerin zögerte, dann sagte sie endlich:
»Nun, ja, wenn es sein muss; wollt Ihr junge?«
»Gewiss, junge.«
»Wie viel zahlt Ihr jetzt auf dem Markte dafür?«
d’Agreval wusste das nicht und wandte sich an seine Begleiterin:
»Was kostet jetzt das Geflügel, ich meine natürlich junges Geflügel?«
»Vier Francs und vier Francs fünfzig«, stammelte sie unter Tränen.
Die Bäuerin warf ihr einen erstaunten Blick zu und fragte dann:
»Ist die Dame krank, weil sie weint?«
Er wusste erst nicht, was er antworten sollte und stotterte dann:
»Nein … nein … aber sie … sie hat unterwegs ihre Uhr verloren, eine wunderhübsche Uhr, und das macht sie ganz traurig. Wenn jemand sie finden sollte, so könnt Ihr uns Bescheid schicken.«
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