»O Henri«, sagte sie zusammenzuckend, »sagen Sie nicht ›dieser Mensch‹, wenn Sie von ihm sprechen.«
»Nun ja!« antwortete er ziemlich rücksichtslos, »wenn unser Sohn irgend eine Vermutung fasst, wenn er misstrauisch wird, so hat er Sie, hat er uns in der Gewalt. Sie haben es ganz gut ausgehalten, ihn seit vierzig Jahren nicht zu sehen; warum muss es denn gerade heute sein?«
Sie waren der langgedehnten Strasse gefolgt, welche von der Stadt aus an die See führt, und wandten sich jetzt rechts, um nach der Küste von Etretat heraufzugehen. Die weiße Strasse lag vor ihnen in der kochenden Glut der Sonnenstrahlen.
Sie gingen bei der glühenden Hitze langsam mit kurzen Schritten. Madame de Cadour hatte den Arm ihres Freundes ergriffen und sah immer geradeaus mit einem irren, suchenden Blick.
»So haben Sie ihn niemals wieder gesehen?« fragte sie ihn.
»Nein, niemals.«
»Ist es möglich?«
»Liebe Freundin, fangen wir diese alte Geschichte nicht wieder von Neuem an. Ich habe Frau und Kinder, wie Sie einen Gatten haben; also Grund genug für uns beide, die öffentliche Meinung zu respektieren.«
Sie antwortete nicht; sie dachte an ihre Jugend zurück, an vergangene traurige Dinge.
Sie war verheiratet worden, wie so manche andere, ohne ihren Bräutigam, einen Diplomaten, eigentlich gekannt zu haben, und sie hatte später mit ihm zusammen gelebt, wie alle Frauen aus der Gesellschaft zu leben pflegen.
Ein junger Mann, Herr d’Agreval, gleichfalls verheiratet, liebte sie leidenschaftlich, und während einer längeren Abwesenheit Herrn de Cadour’s, den eine politische Mission nach Indien führte, erlag sie seinem stürmischen Drängen.
Hätte sie ihm widerstehen, ihn zurückweisen können? Hätte sie die Kraft gehabt, ihm nicht nachzugeben, wo sie ihn gleichfalls leidenschaftlich liebte? Nein, in der Tat nicht! Es wäre zu schmerzlich gewesen; sie hätte zu sehr gelitten. Wie ist doch das Leben hart und grausam. Gewissen Schicksalsfügungen kann man nicht entgehen, man kann sich ihrer Bestimmung nicht entziehen. Kann eine alleinstehende Frau, deren Gatte in der weiten Ferne weilt, die keine Zärtlichkeit geniesst, den Kindersegen entbehrt, auf die Dauer einer Leidenschaft entfliehen, die ihr ganzes Wesen beherrscht? Gewiss ebensowenig wie man imstande wäre, dem Lichte der Sonne zu entfliehen, um bis zu seinem Tode in tiefster Finsternis zu leben.
Wie gut erinnerte sie sich noch jetzt aller Einzelnheiten, seiner Küsse, seines Lächelns, mit dem er an der Tür stehen bleibend sie anblickte, ehe er bei ihr eintrat. Welche Tage des Glückes und der Süssigkeit, diese einzigen schönen, leider nur so schnell vergangenen Tage.
Dann fühlte sie, dass sie Mutter war. Welche Angst!
Ach, diese Reise nach dem Süden, diese lange Reise, diese Leiden, dieser fortwährende Schrecken, dieses verborgene Leben in dem kleinen einsamen Häuschen an der Mittelmeer-Küste, im Hintergrunde eines Gartens, den sie nicht zu betreten wagte.
Wie gut erinnerte sie sich der langen Tage, die sie unter einem Orangenbaum liegend zubrachte, die Augen zu den runden Früchten emporgewendet, deren Rot sich von dem Grün des Blätterwerks abhob. Wie sie so gern ausgegangen wäre bis ans Meer, dessen frischer Hauch über die Mauer her zu ihr hinwehte, dessen kurze Schläge an den Strand sie vernahm, von dessen Oberfläche sie träumte, wie sie bläulich im Lichte der Sonne erglänzte, während weiße Wolken und ein Gebirge den Hintergrund bildeten. Aber sie wagte nicht, aus dem Tore zu gehen. Wenn man sie erkannt hätte, so unförmlich, so unfähig, bei ihrer Figur noch ihre Schande zu verbergen.
Und dann die Tage der Erwartung, die letzten qualvollen Tage! Die drohenden Leiden, endlich die schreckliche Nacht. Wie viel Elend hatte sie doch aushalten müssen!
War das eine Nacht! Wie hatte sie geseufzt und geschrien! Sie sah noch vor sich das bleiche Antlitz ihres Liebhabers, der ihr jeden Augenblick die Hand küsste, die behäbige Gestalt des Arztes, die weiße Mütze der Wärterin.
Und welchen Riss gab es ihrem Herzen, als sie dieses schwache Wimmern, dieses Klagen des Kindes, diesen ersten Ansatz einer menschlichen Stimme vernahm.
Und der nächste Tag! Ach ja, der nächste Tag, der einzige ihres Lebens, wo sie ihr Kind sehen und an ihr Herz drücken konnte, denn niemals seit diesem Tage hatte sie auch nur eine Spur von ihm bemerkt. Welch öde lange Zeit hatte sie dann verbracht, während die Gedanken an dieses Kind ihr immer und immer wieder vor die Seele traten. Sie hatte es nicht wieder gesehen, nicht ein einziges Mal, dieses kleine Wesen, dem sie das Leben geschenkt, ihren Sohn. Man hatte ihn ihr genommen und irgendwo an einen unbekannten Ort gebracht. Sie wusste nur, dass Bauersleute in der Normandie ihn aufgezogen hatten, und dass er selbst ein Landmann geworden war, dass er sich verheiratet und von seinem Vater, dessen Namen er nicht kannte, eine reichliche Mitgift erhalten hatte.
Wie kam sie nur plötzlich auf den Gedanken, zu ihm reisen zu wollen, um ihn zu sehen und an ihr Herz zu drücken? Sie vergass, dass er inzwischen ein Mann geworden war. Sie sah nur immer dieses kleine Menschenwesen vor sich, dass sie einen Tag in ihren Armen gehalten und an ihr klopfendes Herz gelegt hatte.
Wie oft hatte sie später zu ihrem Liebhaber gesagt:
»Ich halte es nicht mehr aus, ich muss ihn sehen; ich fahre hin.«
Stets hatte er sie zurückgehalten, sie gehindert; sie wisse nicht sich zu beherrschen und an sich zu halten, der andere würde alles verraten und aufdecken. Dann sei sie verloren.
*
»Wie sieht er denn aus?« fragte sie d’Agreval.
»Ich weiß es nicht; ich sah ihn niemals wieder.«
»Ist das möglich? Einen Sohn haben und ihn nicht kennen; Furcht vor ihm haben, ihn von sich stossen, wie etwas Schändliches.«
Das war schrecklich.
Und sie gingen unter den drückenden Sonnenstrahlen stets die lange Strasse bergan weiter, die nach der Küste führte.
»Ist es nicht wie ein Strafgericht«, fuhr sie fort, dass ich niemals wieder ein Kind gehabt habe? Nein, ich konnte nicht dem Verlangen widerstehen, das mich nun seit vierzig Jahren quält, ihn noch einmal zu sehen. Ihr Männer versteht das nicht. Denken Sie, dass ich schon einmal am Tode lag. Und ich hätte ihn dann nicht wieder gesehen … ist es möglich … ihn nicht wiedergesehen? … Wie konnte ich nur so lange warten? Mein ganzes Leben lang habe ich an ihn gedacht. Wie habe ich darunter leiden müssen! Niemals bin ich erwacht, nicht ein einziges Mal, denken Sie, ohne dass mein erster Gedanke nicht ihm, meinem Kinde, gegolten hätte. Wie mag es ihm nur gehen? Ach, wie schuldig fühle ich mich ihm gegenüber! Darf man denn in einem solchen Falle Menschenfurcht haben? Ich hätte alles verlassen müssen, um ihm zu folgen, ihn zu erziehen, mit meiner Liebe zu umgeben. Ich wäre glücklicher dabei gewesen, wahrhaftig. Ich war feige, ich wagte es nicht. Wie habe ich gelitten! Ach, wie müssen diese armen verlassenen Wesen ihre Mütter hassen!«
Читать дальше