Die Geschichte hatte sich bald herumerzählt. Als Meister Hauchecorne die Mairie verliess, wurde er von allen Seiten umringt und mit lebhafter spöttischer Neugier, aber ohne jede äussere Entrüstung, befragt. Er erzählte die Geschichte von der Schnur. Aber man glaubte ihm nicht und lachte.
Er erzählte immer aufs Neue jedem, der sie hören wollte, seine Geschichte, schilderte seinen Protest auf der Mairie, zeigte seine umgewendeten Taschen, um zu beweisen, dass nichts darin sei.
»Alter Schlaukopf!« sagte man zu ihm.
Er wurde wütend, ganz ausser sich und schliesslich traurig, weil man ihm nicht glaubte; er wusste nicht, was er machen sollte und erzählte immer wieder seine Geschichte.
Der Abend brach heran. Es wurde Zeit zur Heimkehr. Er machte sich auf den Weg mit drei Nachbarn, denen er die Stelle zeigte, wo er das Endchen Schnur aufgelesen hatte. Und den ganzen Weg über sprach er von seinem Abenteuer.
Den ganzen Abend ging er im Dorfe Béauté herum, um aller Welt seine Geschichte zu erzählen. Er begegnete nur ungläubigen Gesichtern.
Nachts wurde er vor Aufregung krank.
Am anderen Tage, gegen ein Uhr Nachmittags, brachte Marius Paumelle, Dienstknecht bei Meister Breton, Bauer in Ymauville, die Brieftasche samt Inhalt dem Meister Houlbrèque von Manneville zurück.
Dieser Mann behauptete, die Brieftasche tatsächlich auf der Strasse gefunden zu haben. Aber da er des Lesens unkundig war, so hatte er das Ding mit nach Hause genommen und seinem Herrn übergeben.
Die Nachricht verbreitete sich bald in der Nachbarschaft. Auch Meister Hauchecorne erfuhr sie und triumphierte. Er machte sich abermals auf den Weg und erzählte aller Welt die Geschichte nebst seiner Rechtfertigung.
»Was mich bekümmert«, sagte er, »ist nicht sosehr die Sache selbst, versteht ihr, sondern die Lügerei. Nichts geht einem so nahe, als durch eine Lüge um sein Ansehen zu kommen.«
Dieses Abenteuer bildete jetzt seinen steten Gesprächsstoff. Er erzählte es den Vorübergehenden auf der Strasse, den Zechern im Wirtshause, den Kirchengängern am nächsten Sonntage. Selbst Fremde hielt er an, um ihnen die Geschichte zu erzählen. Er war jetzt ziemlich beruhigt; nur etwas genierte ihn, ohne dass er recht wusste, was es war. Es schien als ob die Leute mit ihm scherzten, wenn er die Geschichte erzählte. Man schien nicht recht überzeugt zu sein. Es war, als ob man hinter seinem Rücken allerlei munkelte.
Am Dienstag der nächsten Woche begab er sich abermals nach Goderville auf den Markt, lediglich von dem Bedürfnis getrieben, seine Geschichte zu erzählen.
Malandain stand vor seiner Tür. Er lachte, als er ihn vorübergehen sah. Warum wohl?
Er trat auf einen Pächter von Criquetot zu, der ihn gar nicht ausreden ließ, ihm auf die Schulter klopfte und ihm ins Gesicht lachte: »Geh nur, alter Schlaumeier.« Dann drehte er ihm den Rücken zu.
Verblüfft blieb Meister Hauchecorne stehen, er wurde von Minute zu Minute unruhiger. Warum nannte man ihn einen »alten Schlaumeier?«
Als er sich in der Gaststube bei Meister Jourdain zu Tisch gesetzt hatte, begann er wieder mit seiner Geschichte.
»Ach, geh doch, alter Pfiffikus!« rief ihm ein Viehhändler von Montivilliers zu. »Ich kenne schon deine Schnur!«
»Aber man hat die Brieftasche doch wiedergefunden!« stammelte Hauchecorne.
»Ach schweig doch lieber still;« entgegnete jener, »der eine findet sie, und der andere bringt sie zurück. Keiner sieht’s, keiner hört’s, der Teufel soll einem was beweisen.«
Dem Landmann ging der Atem aus. Jetzt begriff er endlich. Man beschuldigte ihn heimlich, dass er die Brieftasche durch einen Verwandten einen Komplizen hätte zurückbringen lassen.
Er wollte Einwendungen machen; aber der ganze Tisch fing an zu lachen.
Er vergass seine Mahlzeit zu vollenden und ging fort, verfolgt von einem Regen bissiger Scherze.
Beschämt und entrüstet kehrte er nach Hause zurück. Er erstickte fast vor Zorn; er kannte sich selbst nicht mehr aus. Er war umso erbitterter, als er bei seiner normannischen Pfiffigkeit sich nichts daraus gemacht hätte, das zu tuen, dessen man ihn beschuldigte, und sich noch dazu dessen ganz ruhig gerühmt hätte. Es schien ihm fast unmöglich seine Unschuld zu beweisen, weil er seiner Hinterlist wegen bekannt war. Er war in seinem Innersten verwundet durch diesen ungerechten Verdacht.
Nun begann er aufs Neue seine Abenteuer zu erzählen, und jedes Mal wurde die Geschichte länger. Denn jedes Mal fügte er neue Gründe hinzu, immer heftiger protestierte er, immer feierlicher wurden die Reden, die er sich in den Stunden des Alleinseins erdachte. Sein Geist war nur noch mit dieser Geschichte beschäftigt. Aber je länger seine Verteidigung wurde, und je geschraubter die Gründe waren, die er vorbrachte, umso weniger glaubte man ihm.
»Das sind echte Lügen-Geschichten,« tuschelte man hinter seinem Rücken.
Er fühlte das, sein Blut wallte auf; er erschöpfte sich in nutzlosen Anstrengungen.
Gegen Ende Dezember legte er sich zu Bett. Er starb in den ersten Tagen des Januar, und in den Fieberfantasien der letzten Stunden bezeugte er fortwährend seine Unschuld.
»Eine kleine Schnur … Ein Endchen Schnur … sehen Sie, hier ist es Herr Maire.«
Das waren seine letzten Worte.
*
Du bist wahrhaftig, scheint mir’s, nicht bei Trost, meine Liebe, mich bei solchem Wetter im freien Felde spazieren zu führen. Du hast seit zwei Monaten sonderbare Ideen. Du führst mich, ob ich will oder nicht, an die See, wo Du doch in den vierzig Jahren, die wir nun verheiratet sind, niemals an so was gedacht hast. Du bestehst mit Gewalt auf Fecamp, dieser traurigen Stadt; und kaum sind wir hier, so bist Du, die sonst keinen Schritt vor die Türe ging, von einer solchen Rennwut ergriffen, dass Du am heissesten Tage des Jahres querfeldein läufst. Ersuche doch d’Agreval um seine Begleitung; der fügt sich besser Deinen Launen. Ich für meine Person gehe ins Haus und halte meine Siesta.«
»Kommen Sie mit mir?« wandte sich Madame de Cadour an ihren alten Freund.
Er verbeugte sich lächelnd, mit etwas altmodischer Höflichkeit, und sagte:
»Ich folge Ihnen, wohin Sie gehen.«
»Nun, so holen Sie sich einen Sonnenstich«, sagte Herr de Cadour und ging wieder ins Hotel des Bains hinein, um sich ein oder zwei Stündchen aufs Ohr zu legen.
Sobald sie allein waren, begaben sich die alte Dame und ihr Freund auf den Weg. Ihm die Hand drückend sagte sie sehr leise:
»Endlich! … Endlich!«
»Sie sind töricht«, murmelte er, »ich versichere Ihnen, es ist der reine Wahnsinn. Denken Sie, was Sie. riskieren. Wenn dieser Mensch …«
Читать дальше