»Da oben sind die Preussen« sagte Herr Sauvage mit dem Finger auf die Hügel weisend. Diese menschenleere Gegend erfüllte die beiden Freunde mit einem unwillkürlichen Grauen.
»Die Preussen!« Sie hatten noch niemals welche gesehen. Aber sie spürten genug von ihnen seit Monaten, wie sie raubten, mordeten und plünderten, sie aushungerten und sich unsichtbar wie sie waren, dennoch als allmächtige Herren bewiesen. Und eine Art abergläubischer Furcht gesellte sich zu dem Hasse, den sie gegen dieses unbekannte siegreiche Volk empfanden.
»Wenn uns einige begegnen, was dann?« stammelte Morissot.
»So bieten wir ihnen ein Gericht Fische an.« antwortete Herr Sauvage mit jenem echten Pariser Humor, der selbst in den schwierigsten Lagen die Oberhand behält.
Aber es war Ihnen doch nicht so recht wohl zu Mute, sich ins freie Feld zu begeben; dieses weit und breit lastende Schweigen flösste ihnen Besorgnis ein.
»Gehen wir, vorwärts!« entschied endlich Herr Sauvage, »aber vorsichtig!« Und sie kletterten einen Weinberg hinab, mit vorgebeugtem Oberkörper, schleichend, jedes Gesträuch als Deckung benutzend, unruhig umherschauend und ängstlich auf jedes Geräusch lauschend.
Noch hatten sie einen Erdhaufen zu überklettern, um an das Ufer des Flusses zu gelangen. Sie begannen zu laufen und sobald sie am Ufer angekommen waren, versteckten sie sich in dem abgestandenen Röhricht.
Morissot legte das Gesicht an die Erde, um zu lauschen, ob man Marschtritte in der Umgegend vernehmen könnte. Nichts rührte sich indessen. Sie waren allein, ganz allein.
So beruhigt verlegten sie sich nun eifrig aufs Fischen.
Die Insel Marante ihnen gegenüber, welche ebenfalls wie abgestorben dalag, verbarg sie vor dem jenseitigen Ufer. Das kleine Restaurationsgebäude auf derselben war geschlossen, als wenn es seit Jahren nicht mehr benutzt gewesen wäre.
Herr Sauvage fing den ersten Gründling und gleich darauf Herr Morissot den zweiten. Alle Augenblicke zog einer von ihnen die Angelschnur heraus, an der ein silberglänzender Fisch zappelte. Sie machten in der Tat einen glänzenden Fang.
Vorsichtig legten sie ihre Beute in einen engmaschigen Netzbeutel zu ihren Füssen. Eine lebhafte Freude erfüllte sie; jene Freude, die man empfindet, wenn man sich einem langentbehrten Vergnügen zum ersten Male wieder hingibt.
Die Sonne schien warm auf ihre Schultern. Sie hörten nichts und dachten an nichts mehr. Die Welt ringsum war für sie vergessen. Sie widmeten sich ganz ihrem Fischfang.
Plötzlich erzitterte der Boden, wie von einem unterirdischen Geräusche. Es war der Donner von Geschützen.
Morissot wandte den Kopf und gewahrte jenseits des Ufers unten links die gewaltigen Umrisse des Mont-Valerien, vor dessen Front eine weiße Wolke schwebte: Der Pulverdampf, den er auspie.
Alsbald folgte vom Gipfel der Feste ein zweiter Rauchausbruch, und nach einigen Augenblicken hörte man abermals Geschützdonner.
Dann folgten weitere Schläge und in regelmässigen Zwischenräumen stiess der Berg seinen tötlichen Atem aus, und blies den milchweißen Dampf von sich, der langsam am klaren Himmel emporstieg und eine Wolke über seinem Gipfel bildete.
»Sie fangen wieder an,« sagte Herr Sauvage achselzuckend.
Morissot, der ängstlich das Auf- und Abtauchen des Federkiels an seinem Schwimmer beobachtete, wurde plötzlich von jenem heftigen Zorne ergriffen, den der friedliche Mensch gegen jene Unsinnigen empfindet, die so leidenschaftlich kämpfen. »Man muss wirklich besessen sein, um sich gegenseitig so umzubringen,« murmelte er.
»Es ist schlimmer wie bei den Tieren,« entgegnete Herr Sauvage.
»Und zu denken, dass das so weiter gehen wird, solange als es Regierungen gibt!« rief Herr Morissot aus, der gerade einen Weißfisch gefangen hatte. »Die Republik würde den Krieg nicht erklärt haben …« meinte Herr Sauvage.
»Bei den Königen,« unterbrach ihn Herr Morissot, »spielt der Krieg auswärts; bei der Republik hat man ihn im eigenen Lande.«
Und nun begannen sie eine gemütliche Unterhaltung über die schwierigsten politischen Streitfragen mit jenem gesundem Urteil, welches einfache ruhige Leute so oft zeigen, die sich darüber einig sind, dass man niemals wirklich frei ist. Der Mont-Valerien donnerte dazu ohne Unterlass, verwüstete französische Häuser, vernichtete Menschenleben, rottete zahllose Geschöpfe Gottes aus, zerstörte so manchen schönen Traum, so manche ersehnte Freude, und erweckte in den Herzen zahlloser Frauen, Mütter und Mädchen drüben in anderen Ländern endloses Herzeleid.
»Das ist das Leben,« sagte Herr Sauvage.
»Sagen Sie lieber: Der Tod,« entgegnete lachend Herr Morissot.
Aber plötzlich zuckten sie erschreckt zusammen, als sie hinter sich Fusstritte vernahmen. Sich umwendend, gewahrten sie dicht neben ihnen vier Männer, vier bewaffnete, große, bärtige Männer, in eine Art Livree wie Diener gekleidet und mit flachen Mützen bedeckt, welche, das Gewehr im Anschlag, sie beobachteten.
Die Angelruten entsanken ihren Händen und trieben den Fluss hinab.
In einem Augenblick waren sie ergriffen, gebunden, fortgeführt, in einen Kahn geworfen und nach der Insel überführt. Hinter dem Hause, welches sie für leerstehend gehalten hatten, bemerkten sie jetzt einige zwanzig deutsche Soldaten.
Eine Art zottiger Riese, der auf einem Stuhle reitend seine große Porzellanpfeife rauchte, fragte sie in gutem Französisch: »Nun meine Herren, sind Sie mit ihrem Fischfang zufrieden?«
Ein Soldat legte das mit Fischen gefüllte Netz, welches er sorglich mitgebracht hatte, zu Füssen des Offiziers.
»Ah!« machte der Preusse »es ist gut gegangen, wie ich sehe. Aber nun von etwas anderem. Hören Sie mich ruhig an.«
»In meinen Augen sind Sie zwei Spione, die zu meiner Beobachtung ausgesandt wurden. Ich habe Sie aufgegriffen und werde Sie erschiessen lassen. Sie haben sich fischend gestellt, um ihre eigentliche Absicht zu verheimlichen. Nun sind Sie in meiner Gewalt. Umso schlimmer für Sie. Das ist nun mal im Kriege nicht anders.«
»Aber, da Sie über die Vorposten hinausgekommen sind, haben Sie für die Rückkehr sicher ein Losungswort. Geben Sie mir dasselbe, und ich lasse Gnade vor Recht ergehen.«
Die beiden Freunde standen bleich nebeneinander; ein leichtes nervöses Zittern bewegte ihre Hände. Aber sie schwiegen.
»Niemand wird etwas davon erfahren«; nahm der Offizier wieder das Wort. »Sie werden unbehelligt nach Hause zurückkehren. Das Geheimnis wird mit Ihnen wieder verschwinden. Wenn Sie sich aber weigern, so ist das Ihr Tod, und zwar sofort. Also wählen Sie.«
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