Aber die Gräfin hatte es bemerkt, und machte ihrem Manne ein Zeichen. Er zuckte die Achseln, als wenn er sagen wollte: »Was willst Du; ich kann nichts dafür. Madame Loiseau hatte ein stilles triumphierendes Lächeln.
»Sie weint über ihre Schande,« murmelte sie.
Die beiden Schwestern hatten ihr Gebet wieder aufgenommen, nachdem sie den Rest der Schlackwurst wieder eingewickelt hatten.
Cornudet, der seine Eier verdaute, streckte seine langen Beine bis unter die Bank auf der anderen Seite, legte sich zurück, kreuzte die Arme, lächelte wie jemand, dem plötzlich ein guter Witz einfällt und summte die »Marseillaise« vor sich hin.
Alle Gesichter verfinsterten sich. Dieses Volkslied gefiel seinen Nachbarn entschieden nicht. Sie wurden nervös, reizbar und sahen aus, als ob sie heulen wollten wie die Hunde bei den Tönen eines Leierkastens. Er bemerkte es; aber nun hörte er erst recht nicht auf. Zuweilen ließ er ganz laut die Worte erklingen:
Heilige Liebe des Vaterlandes
Führe, stütze unsern Rächerarm,
Freiheit, teure Freiheit,
Kämpf mit Deiner Streiter Schwarm!
Da der Schnee hart geworden war, fuhr man viel schneller. Bis Dieppe, während der langen trüben Fahrt, zwischen den Stössen des Wagens, beim Anbruch des Abends bis in der tiefsten Finsternis, setzte er sein einförmiges Rachelied in wildem Eigensinne fort. Er zwang sie förmlich, mit ihrem müden Geiste seinem Gesange von Anfang bis zu Ende zu folgen, sich jedes einzelne der bis zum Überdruss gehörten Worte einzuprägen.
Fett-Kloss weinte immer weiter. Zuweilen ertönte zwischen den einzelnen Strophen in der Finsternis ein lautes Aufschluchzen, das sie nicht hatte zurückhalten können.
*
Das belagerte, ausgehungerte Paris lag in den letzten Zügen. Die Sperlinge auf den Dächern waren selten geworden und die Kloaken entvölkert. Man ass, was nur immer zu haben war.
Herr Morrisot seines Zeichens Uhrmacher und seiner augenblicklichen Beschäftigung nach Staatsbummler wanderte an einem hellen Januar-Morgen, die Hände in den Hosentaschen seiner Uniform mit leerem Magen in trübseliger Stimmung auf dem äusseren Boulevard umher. Plötzlich blieb er vor einem Waffengenossen stehen, in dem er einen alten Freund wiedererkannte. Es war Herr Sauvage, den er einst am Ufer der Seine kennen gelernt hatte.
Vor dem Kriege wandelte Herr Morissot jeden Sonntag mit dem Frührot, eine Angelrute in der Hand und ein Gefäss aus Weißblech auf dem Rücken zum Hause hinaus. Er benutzte die Eisenbahn nach Argenteuil, stieg in Colombes aus und begab sich zu Fuss nach der Insel Marante. Kaum an diesem Zielpunkt seiner Träume angelangt, begann er zu fischen und fischte bis zum Abend.
Jeden Sonntag traf er dort einen wohlgenährten, kleinen, jovialen Mann, Herrn Sauvage, einen Krämer aus der Strasse Notre Dame de Lorette, der wie er ein leidenschaftlicher Angler war. Sie brachten zuweilen halbe Tage nebeneinander zu, die Angelrute in der Hand, die Füsse über dem Wasser baumelnd, und fühlten sich allmählich von herzlicher Freundschaft zueinander hingezogen.
Zuweilen sprachen sie kaum ein Wort miteinander; dann plauderten sie wieder stundenlang. Aber auch, wenn sie nicht miteinander sprachen, verstanden sie sich wunderbar; denn sie hatten denselben Geschmack und dieselben Empfindungen.
Im Frühling, morgens so gegen zehn Uhr, wenn die neubelebte Sonne ihre Strahlen auf den Fluss warf, dessen Fluten dieselben fortzutragen schienen, und zugleich im Rücken der beiden leidenschaftlichen Angler eine angenehme Wärme zu entwickeln pflegte, sagte Morissot hin und wieder zu seinem Nachbar: »Eine milde Luft, wie?« und Herr Sauvage entgegnete: »Ich kenne nichts angenehmeres.« Hiermit war ihr Gespräch beendet; sie verstanden sich und ehrten ihre gegenseitigen Gefühle.
Und im Spät-Herbst gegen Abend, wenn der von der untergehenden Sonne gerötete Himmel seine Purpurwolken im Wasser widerspiegelte, den ganzen Fluss zugleich mit dem Horizont in Flammen setzte, das fahle Laub der Bäume vergoldete, die schon in winterlichen Rauschen erschauerten, dann schaute Herr Sauvage lächelnd seinen Freund Morissot an und sagte: »Welch herrliches Schauspiel!« Und Morissot ohne das Auge von seinem Kork abzuwenden entgegnete: »Das ist freilich schöner, als auf dem Boulevard.«
*
Sobald sich die beiden Freunde wiedererkannt hatten, schüttelten sie sich heftig die Hände; beide waren tief bewegt, sich unter so ganz anderen Umständen wiederzufinden. »Ein trauriges Wiedersehen,« murmelte Herr Sauvage mit einem tiefen Seufzer. »Und welch ein Wetter!« entgegnete Herr Morissot gedrückt. Es ist heute der erste schöne Tag im neuen Jahre.«
Der Himmel war in der Tat ganz blau und strahlte im schönsten Sonnenlichte.
Traurig und träumerisch gingen sie nebeneinander.
»Und der Fischfang, wie?« nahm Morissot das Gespräch wieder auf. »Welch schöne Erinnerung!«
»Wann werden wir wieder damit beginnen?« fragte Herr Sauvage.
Sie traten zusammen in ein Café ein und tranken einen Absynth; dann nahmen sie ihren Spaziergang auf dem Trottoir wieder auf.
Morissot blieb plötzlich stehen. »Noch ein Gläschen, wie?« Herr Sauvage war einverstanden. »Wie Sie denken.« Und sie traten in ein anderes Wein-Lokal.
Sie waren sehr angeregt, als sie das Lokal verliessen, wie Leute, die noch nicht gefrühstückt haben, aber schon voll Alkohol sind. Die Luft war verhältnismässig mild und ein schmeichelndes Lüftchen umkoste ihre Stirn.
»Wie wär’s wenn wir hingingen?« sagte plötzlich Herr Sauvage, der in der freien Luft sich erst recht benebelt fühlte.
»Wohin?«
»Zum Angeln, meine ich.«
»Aber wo?«
»Auf unserer Insel natürlich. Die französischen Vorposten stehen nahe bei Colombes. Ich kenne den Oberst Dumoulin; man wird uns ohne Schwierigkeiten durchlassen.«
Morissot zitterte vor Begierde.
»Abgemacht,« sagte er »ich bin dabei.« Und sie trennten sich um ihr Angelzeug zu holen.
Eine Stunde später befanden sich beide bereits unterwegs. Sie erreichten alsbald die Villa, die der Colonel bewohnte. Er lächelte über ihre Passion und willigte in ihr Begehren. Mit einem Durchlass-Schein versehen gingen sie weiter.
Bald hatten sie die Vorposten hinter sich, durchschritten das verlassene Colombes und befanden sich schliesslich am Rande der kleinen Weinberge, welche sich am Hange der Seine zu, befinden. Es war ungefähr elf Uhr. Das Dorf Orgenteuil gegenüber schien wie ausgestorben. Die Höhen von Argemont und Sannois beherrschten die ganze Umgegend. Die große Ebene, die sich mit ihren kahlen Kirschbäumen und ihren grauen Feldern bis Nanterre erstreckt, war leer, ganz leer.
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