Sieh dir zwei Damen an, die sich auf der Straße begegnen. Welches Benehmen! Welche abschätzigen Blicke, welche Verachtung in den Augen! Welches Sich-Abmessen von Oben bis Unten, um zu verurteilen. Und wenn der Bürgersteig zu schmal ist, glaubst du, eine von ihnen wiche aus und bäte um Entschuldigung? Niemals! Wenn aber zwei Männer sich in einem zu engen Gässchen anrempeln, lüften beide den Hut und machen sich Platz. Wir aber drängen uns Leib an Leib, Nase an Nase an einander vorüber und blicken uns unverschämt an.
Sieh dir zwei Damen an, die sich kennen und sich auf der Treppe vor der Tür einer Freundin begegnen, die die eine besuchen will und die andere verlässt. Sie fangen an zu schwatzen und versperren die ganze Breite der Treppe. Wenn nun jemand, Mann oder Frau, hinter ihnen herkommt, glaubst du, sie machten nur einen halben Fuß breit Platz? Niemals, niemals!
Letzten Winter wartete ich zweiundzwanzig Minuten, die Uhr in der Hand, an der Tür eines Salons. Und hinter mir warteten zwei Herren, und keiner von beiden machte Miene, wütend zu werden, wie ich. Sie waren eben seit lange an unsre unbewussten Rücksichtslosigkeiten gewöhnt.
Neulich, ehe ich Paris verließ, ging ich – gerade mit deinem Gatten – in ein Restaurant der Champs Élysées, um mich zu erfrischen. Alle Tische waren voll. Der Kellner bat uns zu warten.
Ich sah eine ältere Dame von vornehmem Aussehen, die ihre Rechnung bereits beglichen hatte und zum Aufbruch bereit schien. Als sie mich sah, blickte sie mich von Oben bis Unten an und rührte sich nicht vom Fleck. Sie blieb länger als eine Viertelstunde unbeweglich sitzen, zog ihre Handschuhe an, musterte alle Tische und sah sich die Leute, die wie ich warteten, mit Gemütsruhe an. Zwei junge Herren, die ihre Mahlzeit eben beendeten, erblickten mich und riefen schleunigst den Kellner, um ihre Rechnung zu begleichen. Sie boten mir sofort ihren Platz an und wollten nicht einmal so lange sitzen bleiben, bis die Rechnung bezahlt war. Und dabei, meine Liebe, bin ich nicht mehr jung und hübsch, wie du, sondern alt und grau.
Uns, siehst du, sollte die Höflichkeit beigebracht werden, und diese Arbeit wäre so schwer, dass Herkules sie nicht vollbrächte. –
Du sprichst von Étretat und den Leuten, die an diesem schönen Strande klatschen. Für mich ist die Gegend längst tot, aber früher habe ich mich dort prächtig amüsiert. Wir waren damals nur wenige, Leute aus der Gesellschaft, aus der wirklichen Gesellschaft, und Künstler in brüderlicher Einigkeit. Damals wurde nicht geklatscht.
Wir hatten zu unserer Zeit freilich noch nicht das abgeschmackte Kasino, wo man sich aufspielt, tuschelt, stumpfsinnig tanzt und sich übermäßig langweilt. Wir hatten eine andere Weise, unsre Abende fröhlich zu verbringen. Rate mal, was unsre Herren sich ausdachten: wir tanzten jeden Abend in einem Bauernhofe der Gegend.
Wir brachen im Trupp auf und nahmen einen Leierkasten mit; gewöhnlich drehte ihn der Maler Le Poittevin, eine Baumwollmütze auf dem Kopfe. Zwei Herren gingen mit Laternen voraus. Wir folgten hinterdrein und lachten und schwatzten wie toll.
Der Pächter wurde geweckt, Knechte und Mägde herausgetrommelt. Oft wurde sogar – o Schauder! – Zwiebelsuppe gekocht, und nachher tanzten wir unter dem Birnbaum nach den Klängen der Drehorgel. Die Hähne krähten aufgestört in der Tiefe der Gebäude und die Pferde wieherten unruhig auf der Streu. Der frische Nachtwind streichelte uns die Wangen und wehte uns feuchten Laubgeruch und Heuduft entgegen.
O wie weit, wie weit liegt das jetzt hinter mir! Dreißig Jahre sind es jetzt! –
Ich möchte nicht, meine Liebste, dass du zur Eröffnung der Jagd herkommst. Warum unsern Freunden den Spaß verderben und ihnen den Zwang auferlegen, sich an diesen Tagen des derben, ländlichen Vergnügens elegant anzuziehen? So verdirbt man die Männer, Kleine!
Herzlichen Gruß und Kuss. Deine alte Tante
Geneviève von Z…
*
– Ja, die Weiber!
– Nun, was ist denn mit den Weibern?
– Je nun, es gibt keine geschickteren Tausendkünstler, als sie. Sie legen uns bei allem und jedem herein, mit und ohne Grund, oft aus bloßer Freude am Ränkespinnen. Sie überlisten uns mit unglaublicher Naivetät, mit erstaunlicher Keckheit und unnachahmlicher Feinheit. Sie betrügen uns vom Morgen bis in die Nacht, alle ohne Ausnahme; die anständigsten, die rechtschaffensten, die sinnbegabtesten – alle sind Ränkeschmiede.
Freilich, das muss man sich sagen, nicht selten werden sie dazu gezwungen. Der Mann hat ohne Zweifel oft eigensinnige Launen, Launen wie ein Blöder, und tyrannische Gelüste. Ein Mann trifft in seinem Hause jeden Augenblick die lächerlichsten Anordnungen. Er ist voller Narrheiten, denen seine Frau schmeichelt, um sie zu hintertreiben. Sie macht ihm weis, dass etwas so und so viel kostete, denn wenn es mehr kostete, gäbe es Spektakel. Und sie weiß sich immer geschickt aus der Klemme zu ziehen, und dies durch so einfache und niederträchtige Mittel, dass wir die Arme sinken lassen, wenn wir zufällig dahinter kommen. Dann sagen wir verblüfft: »Wie habe ich das nur nicht merken können!?«
*
Der Mann, der so sprach, war ein alter Minister des Kaiserreiches, Graf von L…, ein sehr verschlagener Mann, wie es hieß, und von überlegenem Geiste.
Eine Gruppe von jungen Leuten umstand ihn und hörte aufmerksam zu.
Mich, begann er von Neuem, hat einmal eine kleine Bürgersfrau in ebenso drolliger wie meisterhafter Weise angeführt. Ihnen zur Lehre will ich die Geschichte erzählen.
Ich war damals Minister des Auswärtigen und hatte die Gewohnheit, jeden Morgen einen langen Spaziergang nach den Champs Élysées zu machen. Es war im Monat Mai; ich ging und sog in vollen Zügen den angenehmen Duft des ersten Grüns ein.
Bald wurde ich gewahr, dass mir Tag für Tag eine allerliebste kleine Person begegnete, eines jener reizenden, graziösen Geschöpfe, die den Stempel von Paris tragen. Ob sie hübsch war? Ja und nein. Schön gewachsen? Nein, besser als das. Die Taille war zu schlank, die Schultern zu grade, die Brust zu gewölbt. Aber wenn auch, ich ziehe diese köstlichen lebenden Puppen mit ihrer rundlichen Form dem großen Knochengerüst der Venus von Milo vor…
Und dann trippelte sie auf eine unnachahmliche Weise, und das bloße Rauschen ihrer Röcke lässt es uns heiß und kalt durch die Glieder rieseln… Es sah aus, als blickte sie mich im Vorübergehen an. Aber diese Kreaturen sehen immer nach allem Möglichen aus, und man weiß doch nie…
Eines Morgens erblickte ich sie auf einer Bank sitzend; sie hatte ein aufgeschlagenes Buch in der Hand. Schnell setzte ich mich neben sie und in fünf Minuten waren wir die besten Freunde. Dann begrüßten wir uns jeden Morgen lächelnd: »Guten Tag, meine Dame!« – »Guten Tag, mein Herr!« und darauf wurde geplaudert. Sie verriet mir, dass sie die Frau eines Beamten sei, dass das Leben traurig, die Vergnügungen selten und die Sorgen häufig wären, und tausend andere Dinge mehr.
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