Darum sind sie auch entzückt, wenn ich nicht da bin. Aber ich werde da sein und Besichtigung abhalten, wie ein General, wenn es Essenszeit ist. Und wenn ich einen finde, der sich vernachlässigt, werde ich ihn zu den Mägden in die Küche schicken.
Die Herren von heute sind so wenig rücksichtsvoll und haben so wenig Lebensart, dass man nie streng genug sein kann. Es ist wirklich die Zeit der Kutschermanieren. Wenn sie miteinander in Streit geraten, gebrauchen sie Schimpfworte wie Fuhrknechte, und vor uns benehmen sie sich weit schlechter, als unsre Dienstboten. In den Seebädern muss man sie sehen! Da sind sie in hellen Haufen und man kann sie in Masse beurteilen, wie ungehobelt sie sind!
Stelle dir vor: in der Eisenbahn sitzt mir ein Herr gegenüber, der es seinem Schneider zu danken hatte, dass er auf den ersten Blick anständig aussah. Plötzlich zieht er in aller Ruhe seine Stiefel aus und legt Schlappen an. Ein anderer, ein älterer Mann, scheinbar ein reicher Emporkömmling – die sind immer am schlechtesten erzogen – sitzt mir gegenüber und legt gemütlich seine beiden Füße auf den Sitz neben mir. So etwas ist erlaubt.
In den Seebädern herrscht ein geradezu zügelloses Flegeltum. Freilich stammt meine Empörung, wie ich hinzufügen muss, vielleicht daher, dass ich gar nicht gewöhnt bin, mit diesen Leuten, die man hier mit dem Ellenbogen streift, zu verkehren; ihr Benehmen würde mich vielleicht weniger verletzen, wenn ich es nicht anders kennte.
Im Hotelbüro wurde ich neulich von einem jungen Menschen fast umgestoßen: er nahm über meinen Kopf weg seinen Schlüssel vom Brette. Ein anderer rempelte mich beim Verlassen des Kasinoballs mit aller Gewalt an, ohne mich um Entschuldigung zu bitten oder auch nur den Hut abzunehmen; ich habe noch heute Brustschmerzen davon. Und so sind sie alle. Sieh sie dir an, wenn sie Damen auf der Terrasse anreden: sie grüßen kaum. Sie legen höchstens die Hand an die Kopfbedeckung. Da sie indes zumeist Kahlköpfe haben, ist dies vielleicht das beste.
Aber etwas empört und verletzt mich vor allem: das ist die Art, wie sie sich ganz öffentlich und ohne die geringste Vorsicht von den empörendsten Dingen unterhalten. Wenn zwei Männer zusammen sind, erzählen sie sich in den rohsten Ausdrücken und gemeinsten Gedankengängen wahrhaft unerhörte Geschichten, ohne sich im Geringsten zu genieren, wenn ein Frauenohr in ihrer Nähe ist. Gestern am Strande musste ich meinen Platz wechseln, um nicht länger die unfreiwillige Zuhörerin einer skandalösen Geschichte zu sein, die sie sich in so brutalen Ausdrücken erzählten, dass ich nicht wusste, ob ich mich mehr schämen oder mehr empört sein sollte, dass ich so etwas hatte mitanhören müssen. Das geringste Anstandsgefühl hätte ihnen sagen können, dass man in unsrer Nähe von solchen Sachen leise zu sprechen hat.
Étretat ist übrigens das Land, wo von allem Aufhebens gemacht wird, und folglich die Heimat der Klatschbasen. Nachmittags von fünf bis sieben Uhr sieht man sie auf der Jagd nach Verläumdungen, die sie von Haus zu Haus tragen. Du sagtest mir einmal, liebe Tante, die Klatschsucht wäre ein Zeichen von kleinem Geiste und schlechter Herkunft. Sie ist auch der Trost der Frauen, denen keine Liebe mehr blüht und der Hof nicht mehr gemacht wird. Man braucht sich die nur anzusehen, die als die Klatschsüchtigsten bezeichnet werden, und man ist sicher, dass du dich nicht täuschtest.
Neulich wurde eine musikalische Soirée im Kasino von einer namhaften Künstlerin, Frau Masson, veranstaltet. Sie sang wirklich zum Entzücken. Ich hatte auch Gelegenheit, den prachtvollen Coquelin zu beklatschen, ebenso zwei reizende frühere Mitglieder vom Baudeville-Theater, M… und Meillet. Ich konnte bei dieser Gelegenheit alles, was diesen Sommer am Strande war, zusammen sehen. Viel Gutes war nicht darunter.
Am nächsten Tage ging ich zum Frühstück nach Yport. Ich sah einen bärtigen Menschen aus einem großen festungsartigen Hause kommen; es war der Maler Jean Paul Lorens. Es genügte ihm anscheinend nicht, seine Personen mit Mauern zu umgeben; er möchte sich auch noch selbst einmauern.
Am Strande saß ich neben einem noch jungen Manne von zartem und feinem Aussehen und stillem Wesen, der Verse las. Aber er las sie mit solcher Aufmerksamkeit, dass er nicht ein einziges Mal nach mir aufsah. Ich war etwas verwundert und fragte den Bademeister scheinbar unabsichtlich, wer dieser Herr wäre. Im Grunde lachte ich ein wenig über diesen Versleser; er schien mir für einen Mann etwas zurückgeblieben. Das ist ein Simpel, sagte ich mir. Nun wohl, liebe Tante, jetzt bin ich ganz entzückt von meinem Unbekannten. Denke dir, er hieß Sully Prudhomme. Ich kehrte um und setzte mich neben ihn, um ihn in aller Gemütsruhe betrachten zu können. Sein Gesicht hat vor allem einen starken Ausdruck von Ruhe und Feinheit. Da ihn jemand abholte, hörte ich auch seine Stimme; sie ist sanft und fast furchtsam. Der wird gewiss keine Roheiten ausposaunen, dachte ich, noch Frauen anrempeln, ohne sich zu entschuldigen. Er muss anders sein, als die Übrigen, aber kränklich und nervös. Diesen Winter werde ich sehen, dass er mir vorgestellt wird.
Ich weiß nichts mehr zu schreiben, liebe Tante, und schließe diesen Brief in Eile, da die Post bald abgeht. Ich küsse dir Hände und Wangen.
Deine treue Nichte
Bertha von X…
P. S. Zur Rechtfertigung der französischen Höflichkeit muss ich hinzusetzen, dass unsere Landsleute auf Reisen im Vergleich zu den schauderhaften Engländern wahre Muster von Höflichkeit sind. Denn Die scheinen in der Kutscherstube erzogen zu sein und geben sich alle Mühe, sich selbst nie und ihren Nachbarn stets zur Last zu fallen.
*
Les Fresnes, Sonnabend.
Meine liebe Kleine!
Vieles, was du mir da schriebst, hat Hand und Fuß, was freilich nicht verhindert, dass du unrecht hast. Früher war ich ganz wie du voll Ingrimm über die Unhöflichkeit der Männer gegen mich; später, als ich älter wurde, und meinen koketten Sinn verlor, und die Dinge betrachten lernte, wie sie sind, wurde mir klar, dass die Männer vielleicht nicht höflich, die Frauen dagegen immer von ausgesuchter Rücksichtslosigkeit sind.
Wir glauben, uns sei alles erlaubt, meine Liebe, und wir glauben zugleich, dass man uns alles schuldig sei, und wir begehen am hellen lichten Tage tausend Unarten, die jenes Anstandsgefühles, von dem du sprichst, völlig baar sind.
Jetzt finde ich im Gegenteil, dass die Männer gegen uns – im Vergleich zu unserem Benehmen gegen sie – noch sehr rücksichtsvoll sind. Zuletzt, mein Täubchen, sind die Männer immer das, und müssen es sein, was wir aus ihnen machen. In einer Gesellschaft, in der die Frauen alle vornehme Damen wären, müssten die Männer alle zu Edelleuten werden. Mach nur die Augen auf und denke nach.
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