Er war schon drei Monate in Lille, als er eines Morgens den Besuch einer jungen Frau bekam. Es war die Schwester seiner früheren Geliebten.
Frau Poinçot hatte lange schwer gelitten und war von einer Verzweiflung befallen, gegen die sie nicht ankämpfen konnte. Jetzt war sie dem Tode nahe. Sie war hoffnungslos aufgegeben und wollte ihn nur noch eine Minute sehen, ehe sie die Augen schloss.
Trennung und Zeit hatten den Verdruss und Zorn des jungen Mannes gelindert; er war gerührt und weinte. Noch am selben Tage reiste er nach Le Havre.
Sie schien in den letzten Zügen zu liegen. Man ließ ihn allein am Bette der Sterbenden, die er ohne seine Schuld getötet hatte. Eine furchtbare Reue schüttelte ihn. Schluchzend küsste er sie mit sanften, glühenden Lippen, wie nie zuvor, und stammelte: »Nein, du sollst nicht sterben. Du sollst wieder genesen. Wir werden wieder zusammen sein. Immer…«
»Ist’s wahr?« lispelte sie. »Liebst du mich noch?« Und in seiner Verzweiflung schwur und versprach er, sie zu erwarten, wenn sie genesen sein würde. Er empfand das tiefste Mitleid mit ihr und küsste die abgemagerten Hände der armen Frau, deren Herz unregelmäßig schlug.
Am nächsten Tage war er wieder in seiner Garnison. Sechs Wochen später kam sie nach. Sie war nicht wiederzuerkennen, so war sie gealtert, und verliebter denn je.
In seiner Ratlosigkeit nahm er sie wieder zu sich und sie lebten zusammen, als wären sie durch das Gesetz vereint. Aber derselbe Oberst, den es damals empört hatte, dass er sie verlassen, entrüstete sich jetzt über diese wilde Ehe; so etwas wäre mit dem Vorbilde, das ein Offizier im Regiment geben sollte, unvereinbar. Erst erteilte er seinem Untergebenen einen Verweis, dann wurde er wütend, und Renoldi reichte seinen Abschied ein.
Sie lebten nun in einer Villa am Mittelmeer, dem klassischen Meer der Verliebten.
Drei Jahre gingen so hin; Renoldi war gebeugt, besiegt, erlegen, an diese hartnäckige Zärtlichkeit gewöhnt. Sie hatte jetzt weißes Haar.
Er hielt sich für einen verlorenen, vernichteten Menschen. Alle Aussichten schienen ihm dahin, die Karriere verpfuscht, alle Freude benommen, alle Befriedigung versagt.
Eines Morgens bekam er eine Karte mit der Aufschrift: »Josef Poinçot, Rheder, Le Havre.« – Der Mann! Der Mann, der nichts gesagt hatte, weil er wohl auch einsah, dass gegen den verzweifelten Eigensinn der Weiberliebe nichts zu machen sei. Was wollte er?
Er wartete im Garten und weigerte sich, in die Villa zu kommen. Er grüßte höflich, wollte sich aber nicht einmal auf eine Gartenbank setzen und begann deutlich und langsam zu sprechen:
– Mein Herr, ich bin nicht hierher gekommen, um Ihnen Vorwürfe zu machen. Ich weiß zu gut, wie die Dinge gekommen sind. Ich bin… wir sind… einer Art von Verhängnis unterlegen. Ich hätte Sie hier in ihrem Wohnsitz nicht belästigt, wenn die Verhältnisse es nicht erheischten. Ich habe zwei Töchter, mein Herr. Die eine liebt einen jungen Mann, der ihre Liebe erwidert. Aber seine Familie widersetzt sich der Heirat. Es ist wegen der Lage, in der sich die… die Mutter der Kinder befindet… Ich hege weder Zorn noch Rachsucht gegen sie, aber ich bete meine Kinder an, mein Herr. Ich komme also, um meine… meine Frau von Ihnen zurückzufordern; ich hoffe, sie wird heute darein willigen, in mein… ihr Haus zurückzukehren. Was mich betrifft, so werde ich den Schein zu erhalten wissen, dass ich ihr wegen meiner Töchter verziehen habe.
Renoldi glaubte sich in den Himmel versetzt. Ein Freudentaumel durchfuhr ihn; es war ihm wie einem Verurteilten, der begnadigt wird.
– Aber natürlich, mein Herr, stotterte er. Ich selbst… glauben Sie mir… ohne Zweifel… es ist gerechtfertigt, nur zu gerechtfertigt…
Am liebsten hätte er die Hände des Mannes ergriffen, ihn in seine Arme geschlossen und auf beide Backen geküsst.
– Treten Sie doch näher, bat er. Im Salon ist es doch besser. Ich werde sie gleich rufen.
Diesmal weigerte sich Herr Poinçot nicht länger und setzte sich.
Renoldi hüpfte die Stufen herauf; vor der Tür seiner Geliebten sammelte er sich und trat ernst herein. »Du wirst unten erwartet,« sagte er. »Es ist wegen Deiner Töchter.« Sie richtete sich auf. »Wegen meiner Töchter? Was ist denn mit ihnen? Sie sind doch nicht gestorben?«
– Nein, erwiderte er, aber sie sind in einer ernsten Lage, aus der du sie allein erlösen kannst. Sie hörte nicht mehr hin und ging schnell herunter, während er auf einen Sessel sank und mit pochendem Herzen wartete.
Er wartete lange, lange. Dann, als heftige Stimmen durch die Decke bis zu ihm herauf drangen, entschloss er sich, herunterzugehen.
Frau Poinçot stand aufrecht im Zimmer und wollte eben gehen; ihr Gatte hielt sie am Kleide fest und sagte eindringlich: »Aber verstehen Sie doch, Sie vernichten das Glück Ihrer Töchter, unserer Kinder!«
Aber sie antwortete hartnäckig: »Ich will nicht zu Ihnen zurück!« Renoldi erkannte sofort die Gefahr, trat niedergeschlagen näher und stotterte: »Was, sie will nicht?« Da drehte sie sich um und sagte, indem sie ihn in einer Anwandlung von Scham vor dem rechten Gatten nicht mehr zu dutzen wagte: »Wissen Sie, was er von mir verlangt? Zurückkommen soll ich in sein Haus!« Dabei lachte sie höhnisch und mit verächtlicher Miene gegen den Mann, der sie kniefällig bat.
Da sprach Renoldi mit der Entschlossenheit eines verzweifelten Spielers, der alles auf die letzte Karte setzt. Er trat für die armen Mädchen ein, für den Gatten, für sich. Als er innehielt, um nach neuen Beweggründen zu suchen, lispelte Herr Poinçot, der mit seiner Weisheit auch zu Ende war, indem er sie aus alter Gewohnheit plötzlich wieder dutzte:
– Komm, Delphine, denke an deine Kinder!
Sie warf ihnen beiden einen Blick souveräner Verachtung zu, riss sich los und war mit einem Satz auf der Treppe.
– Ihr seid zwei elende Gesellen! rief sie ihnen von oben aus zu.
Als sie wieder allein waren, blickten sie sich einen Augenblick gebrochen und niedergeschlagen an. Dann hob Herr Poinçot seinen hingefallenen Hut auf, klopfte sich das vom Kniefall bestaubte Beinkleid ab, und Renoldi begleitete ihn nach der Tür.
»Wir sind beide sehr unglücklich, mein Herr!« sagte er draußen mit verzweifelter Gebärde, grüßte, setzte seinen Hut auf und ging mit kummervollen Schritten.
*
Étretat, Freitag.
Meine liebe Tante!
Ich komme Dir allmählich entgegen. Ich werde am 2. September in Les Fresnes sein, den Tag vor Beginn der Jagd, den ich nicht verfehlen möchte, um diese Herren zu ärgern. Du bist zu gut, liebe Tante, und wenn du mit ihnen allein bist, erlaubst du ihnen ohne Frack und unrasiert zum Essen zu kommen, weil sie angeblich ermüdet sind.
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