So etwas erkältet mich immer bis ins Herz hinein. Denn mir scheint, wenn man sich lieb hat, muss man immer Lust haben, sich noch mehr zu lieben, wenn ein solches Naturspiel uns bewegt.
Zudem hatte ich manchmal poetische Wallungen, die er durch seine bloße Anwesenheit unterdrückte. Was soll ich dir sagen? Ich war nicht viel anders als ein Kessel voll Dampf, der luftdicht verschlossen ist.
Eines Abends, wir waren schon seit vier Tagen in einem Hotel in Fluelen, hatte Robert etwas Migräne und war darum gleich nach dem Essen zu Bett gegangen; und ich ging ganz allein am Rande des Sees spazieren.
Die Nacht war zauberhaft. Der Vollmond stand hoch am Himmel; die großen Berge mit ihren Schneehäuptern waren mit Silber umsäumt, und über das tiefschwarze Wasser gingen leichte Lichtschauer. Die Luft war weich, sie war von jener bezaubernden Weiche, die uns schwach bis zum Umfallen macht und uns ohne Veranlassung zärtlich stimmt. Wie ist die Seele in solchen Momenten empfindsam! Wie bebt sie! Wie leicht regt sie sich dann und wie stark empfindet sie alles!
Ich setzte mich ins Gras und ließ mein Auge auf diesem großen, träumerischen, bezaubernden See ruhen, und etwas Seltsames ging in mir vor. Ich empfand plötzlich ein unersättliches Verlangen nach Liebe, eine Empörung gegen die trübe Plattheit meines Lebens. Sollte es mir nie vergönnt sein, am Arm eines geliebten Mannes das hohe Ufer eines mondbeglänzten Sees zu umwandeln? Würde ich nie jene tiefen, süßen, betörenden Küsse auf mich eindringen fühlen, wie man sie in solchen Mondnächten austauscht, die von Gott eigens für die Liebe geschaffen scheinen? Sollte ich nie in mondheller Sommernacht von trunkenen Armen zitternd umspannt werden?
Und ich begann zu weinen, wie eine Törin. Da – hörte ich Geräusch in meinem Rücken: ein Mann stand hinter mir und blickte mich an. Als ich den Kopf wandte, erkannte er mich und kam näher. »Sie weinen, gnädige Frau?« fragte er zartfühlend. Es war ein junger Advokat, der mit seiner Mutter reiste und den wir schon mehrfach getroffen hatten. Seine Augen hatten oft auf mir geruht.
Ich war so außer Fassung, dass ich nicht wusste, was ich sagen und denken sollte. Ich stand auf und sagte, dass ich krank wäre. Er schritt ungezwungen und ehrerbietig neben mir her und sprach von unserer Reise. Alles, was ich empfunden hatte, deutete er sich. Alles, weswegen ich zitterte, verstand er wie ich, besser als ich. Und plötzlich sagte er mir Verse, Verse von Musset. Ich brach in Tränen aus, von unaussprechlicher Sehnsucht gepackt. Mir war, als wären die Berge droben, der See und der Mondschein voll unvergänglich süßer Musik…
Und so kam es, ich weiß selbst nicht wie, ich weiß selbst nicht warum, es war wie in einer Art von Traumwachen…
Was ihn betrifft… ich habe ihn nur noch am nächsten Tage gesehen, es war bei der Abfahrt. Er hat mir seine Karte gegeben…
Frau Létoré sank erschöpft in die Arme ihrer Schwester und stieß Seufzer auf Seufzer, fast Schreie aus.
Und Frau Roubère sagte ernst und gesammelt, aber sanft:
– Siehst du, große Schwester, oft ist es nicht ein Mann, den wir lieben, sondern die Liebe. Und an diesem Abend war der Mondschein dein wahrer Geliebter.
*
Das Meer lag ruhig und glänzend, wie ein Spiegel, von der andringenden Flutwelle kaum gekräuselt. Die ganze Bevölkerung stand auf dem Hafendamm und sah dem Einlaufen der Schiffe zu.
Sie waren schon weithin sichtbar und zahlreich, große Dampfer mit der Rauchfeder am Schornstein, und Segelschiffe, von kleinen Schleppdampfern gezogen und mit nackten Masten gen Himmel starrend, wie entlaubte Bäume.
Sie kamen von allen vier Winden in die enge Mündung des Hafens eingelaufen, der diese Ungetüme alle verschlang, während sie stöhnten und kreischten und zischten und Dampfströme ausspien, als wären sie außer Atem.
Zwei junge Offiziere promenierten grüßend und wieder gegrüßt und zuweilen stehen bleibend, um zu plaudern, auf der menschenbedeckten Mole.
Plötzlich drückte der größere von ihnen, Paul d’Henricel, den Arm seines Kameraden Jean Renoldi und flüsterte: »Schau, da ist auch Frau Poinçot; sieh nur genau hin, ich versichre dich, sie wirft dir Blicke zu…«
Die Genannte kam am Arm ihres Gatten, eines reichen Schiffsrheders, ihnen entgegen. Sie war gegen Vierzig, aber noch sehr stattlich, ein wenig stark, aber gerade infolge ihrer üppigen Fülle noch so frisch wie eine Zwanzigjährige. Ihre Bekannten nannten sie wegen ihres stolzen Auftretens, ihrer großen schwarzen Augen und der ganzen Vornehmheit ihres Wesens die Göttin. Sie war stets unbescholten geblieben. Nie hatte ein Verdacht ihren Wandel gestreift. Sie wurde als Vorbild einer ehrbaren und einfachen Frau hingestellt, und kein Mann hätte gewagt, an sie zu denken; so hoch stand sie.
Und nun versicherte Paul d’Henricel seinem Freunde Renoldi seit einem Monat, dass ihm Frau Poinçot zärtlich Blicke zuwürfe, und war nicht davon abzubringen. »Ich versichere dir«, sagte er, »dass ich mich nicht täusche. Ich sehe es deutlich, sie liebt dich. Sie liebt dich leidenschaftlich, wie ein keusches Weib, das nie geliebt hat. Vierzig Jahre sind ein gefährliches Alter für die anständigen Frauen, wenn sie Herz und Sinne haben. Sie werden töricht und machen Torheiten… Sie ist getroffen, mein Freund, wie ein verwundeter Vogel. Sie fällt, sie fällt – dir in die Arme. Sieh nur, sieh!«
Die stattliche Frau rauschte hinter ihren beiden zwölf- und fünfzehnjährigen Töchtern vorüber und erblasste plötzlich, als sie den Offizier erblickte. Sie sah ihn glühend an, mit starrem Blick, und schien nichts mehr um sich zu sehen, weder ihren Mann, noch ihre Kinder, noch die Menschenmenge. Sie erwiderte den Gruß der jungen Leute, ohne ihren heißen Blick zu senken. Es war ein Blick von so lodernder Glut, dass der Leutnant Renoldi endlich zu begreifen begann.
»Ich wusste es ja«, triumphierte sein Freund. »Hast du’s diesmal gesehen? Wetter! Das ist noch ein schöner Bissen!«
*
Aber Renoldi wollte nichts von derartigen Liebschaften wissen. Er suchte die Liebe nicht und sehnte sich vor allem nach einem ruhigen Leben. Im Übrigen begnügte er sich mit Gelegenheits-Liebschaften, wie sie einem jungen Manne stets begegnen. Denn ihm waren all die Sentimentalitäten eines solchen Verhältnisses, all die Zärtlichkeitsbeweise und Rücksichten, die eine verwöhnte Dame fordert, ein Gräuel. Die Kette, die ein solches Abenteuer immer knüpft, und mag sie noch so leicht sein, flößte ihm Angst ein. Er sagte sich: Nach einem Monat hab’ ich es über und über satt, und ich muss anstandshalber sechs Monate aushalten. Zudem war ihm ein Bruch mit den obligaten Szenen und Vorwürfen, dem Sich-Anklammern des verlassenen Weibes entsetzlich.
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