Eines Abends war Ball bei Samoris und zwei neue Gäste plauderten hinter der Tür. Fräulein Yveline, die eben getanzt hatte, lehnte sich gegen diese Tür, um ein wenig Luft zu holen. Sie sahen sie nicht kommen und das Mädchen verstand ihre Unterhaltung.
– Aber wer ist denn der Vater des jungen Mädchens? fragte der eine.
– Ein Russe, scheint es, ein Graf Ruwaloff. Er sieht die Mutter nicht mehr.
– Und der jetzt regierende Herr?
– Jener englische Prinz, der sich ins Fenster lehnt. Frau Samoris betet ihn an. Nur dauern ihre Anbetungen nie länger als vier bis sechs Wochen. Übrigens sehen Sie ja, dass es an Freunden nicht fehlt; alle sind berufen… und fast alle werden auserwählt. Das ist ein etwas teurer Scherz, aber… Basta!
– Woher hat sie denn aber den Namen Samoris?
– Von dem einzigen Manne vielleicht, den sie geliebt hat, einem jüdischen Bankier aus Berlin, der Samuel Borris hieß.
– Gut. Ich danke Ihnen, Jetzt, wo ich unterrichtet bin, sehe ich klar. Und ich werde gerade aufs Ziel gehen.
Welcher Sturm der Entrüstung in dem Gehirn dieses jungen Mädchens ausbrach, das alle Instinkte eines anständigen Weibes besaß; welche Verzweiflung diese unschuldige Seele erfasste; welche Qualen diesem unaufhörlichen Frohsinn, diesem bezaubernden Lachen, dieser übermütigen Lebensfreude ein Ende bereiteten; welcher Kampf in dem Herzen des armen jungen Wesens tobte, bis der letzte Gast gegangen war: das alles hat mir Joseph nicht verraten können. Aber noch an demselben Abend trat Uveline plötzlich in das Zimmer ihrer Mutter, die sich gerade hinlegen wollte, hieß das Kammermädchen herausgehen, das hinter der Tür stehen blieb, und sagte mit bleichem Gesicht und großen Augen:
– Mama, dies habe ich eben im Salon gehört. Und damit erzählte sie die Unterhaltung, die ich Ihnen eben anvertraute, Wort für Wort wieder.
Die Gräfin war betroffen und wusste zu Anfang nicht, was sie sagen sollte. Dann stellte sie alles energisch in Abrede, erfand eine Geschichte, schwur und rief Gott zum Zeugen an.
Das junge Mädchen ging verwirrt, aber nicht überzeugt, und passte seither auf.
Ich ensinne mich noch sehr deutlich der seltsamen Veränderung, die mit ihr vorgegangen war. Sie war immer ernst und traurig und blickte uns mit ihren großen Augen starr an, als ob sie auf dem Grund unserer Seelen lesen wollte. Wir wussten nicht, was wir davon halten sollten, und glaubten wohl, sie suchte einen Mann, sei es für immer, sei es vorübergehend.
Eines Abends war sie nicht mehr in Zweifel: sie überraschte ihre Mutter. Da sagte sie kalt, wie ein Geschäftsmann, der seine Vertrags-Bedingungen vorschlägt:
– Mama, ich habe mich zu Folgendem entschlossen. Wir werden alle beide fortziehen, in eine kleine Stadt oder aufs Land, wir werden dort ohne viel Aufsehen leben, wie wir können. Dein Schmuck allein ist ein Vermögen wert. Wenn du Gelegenheit findest, einen anständigen Mann zu heiraten, umso besser. Finde ich auch einen, noch viel besser. Wenn du nicht darein willigst, werde ich mich töten.
Diesmal schickte die Gräfin ihre Tochter zu Bett und verbot ihr ein für alle mal, ihr wieder solche Lektionen zu halten, die sich in ihrem Munde nicht geziemten.
– Ich gebe dir einen Monat Bedenkzeit, antwortete Yveline. Wenn unser Dasein sich in einem Monat nicht geändert hat, werde ich mich töten, da es für mein Leben keinen anderen anständigen Ausweg gibt.
Damit ging sie.
Als ein Monat herum war, wurde im Hause Samoris immer noch getanzt und soupiert.
Yveline gab nun vor, sie hätte Zahnweh, und ließ bei einem Apotheker in der Gegend etwas Chloroform holen. Am nächsten Tage fing sie wieder an, und jedes Mal, wenn sie ausging, brachte sie sich belanglose Dosen dieses Betäubungsmittels mit und füllte sie in eine Flasche.
Eines Morgens fand man sie tot in ihrem Bette; sie war schon kalt und hatte eine Chloroform-Maske vor’m Gesicht.
Ihr Sarg war mit Blumen überdeckt, die Kirche weiß ausgeschlagen. Bei der Trauerfeier war ein großer Menschenandrang.
Donnerwetter ja! wahrhaftig, wenn ich das vorher gewusst hätte – aber man weiß ja nie etwas – ich hätte das Mädel vielleicht geheiratet. Sie war ganz allerliebst.
– Und die Mutter, was ist aus der geworden?
– Oh, die hat geweint… Erst seit acht Tagen beginnt sie ihre nächsten Bekannten wieder zu empfangen.
– Und was hat sie gesagt, um diesen Tod zu erklären?
Sie hat von einem Füllofen gesprochen, dessen Mechanismus entzwei gegangen wäre. Da die Unfälle mit diesen Dingern ehedem viel Lärm gemacht haben, lag nichts Unwahrscheinliches darin.
*
Den ganzen Winter in Paris hatten sie in engsten Beziehungen gestanden. Als sie die Schule verließen, hatten sie sich wie gewöhnlich aus den Augen verloren, bis sie sich plötzlich eines Abends in einer Gesellschaft wiederfanden, beide schon alt und grau, der eine als Junggeselle, der andere als Ehemann.
Herr von Méroul wohnte ein halbes Jahr in Paris und ein halbes Jahr in seinem kleinen Schloss bei Troubeville. Er hatte die Tochter eines Schlossherrn der Gegend heimgeführt und still wie ein Mensch, der nichts zu tun hat, ein friedlich beschauliches Dasein geführt. Er war von ruhigem Temperament und gesetztem Geiste ohne jegliche Keckheit oder Unabhängigkeits-Gelüste; seine Zeit verging ihm damit, dass er die Vergangenheit sanft zurückwünschte und den Sitten und Einrichtungen der guten alten Zeit nachweinte; und bei jeder Gelegenheit wiederholte er seiner Frau, die dabei die Augen und zuweilen auch die Hände gen Himmel hob, um kräftiger beizustimmen: »O Gott, unter was für einer Regierung leben wir!«
Frau von Méroul stand ihrem Gatten geistig so nahe, als ob sie Bruder und Schwester gewesen wären. Sie wusste durch die Tradition, dass man zuerst den Papst und den König ehren muss!
Und sie liebte und ehrte sie beide von Herzensgrund, ohne sie zu kennen; sie liebte sie mit poetischer Begeisterung und angeborener Hingebung, mit aller Zärtlichkeit einer Frau aus guter Familie. Sie war gut bis in die Falten ihrer Seele. Sie hatte nie Kinder gehabt und sehnte sich stets danach.
Als Herr von Méroul seinen alten Freund Josef Mouradour bei einem Balle wiederfand, bereitete ihm diese Begegnung eine tiefe, ungeschminkte Freude, denn sie hatten sich in ihrer Jugend sehr geliebt.
Nach den ersten Ausrufen des Erstaunens, wie sehr ihr Aussehen und Gesicht vom Alter verändert wären, hatten sie sich gegenseitig nach ihrem Leben erkundigt.
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