Sie sprach ausserordentlich angenehm, dabei herzlich und vornehm zugleich. Johanna fühlte sich sofort aufs wärmste zu ihr hingezogen. »Das wäre eine Freundin für Dich«, dachte sie bei sich. Der Graf Fourville dagegen war wie ein Bär, den man in einen Salon gebracht hat. Nachdem er sich gesetzt hatte, legte er den Hut auf den nächsten Stuhl, blieb einen Augenblick unschlüssig, was er mit seinen Händen machen sollte, stützte sie bald auf seine Knie, bald auf die Lehnen seines Stuhls und faltete sie schliesslich auf seinem Schosse wie zum Gebet.
Plötzlich trat Julius herein; Johanna hätte ihn fast nicht wiedererkannt. Er war glatt rasiert, gut angezogen und sah vornehm und bezaubernd aus wie einstmals. Er schüttelte die kräftige Faust des Grafen, der bei seinem Eintritt aus seiner Lethargie erwacht schien und küsste galant die Hand der Gräfin, deren Elfenbein-Wangen sich ein wenig röteten, während ihre Augen aufblitzten.
Julius riss die Unterhaltung an sich, plauderte liebenswürdig wie ehemals, und seine großen Augen hatten wieder den einstigen Glanz angenommen, wenn leidenschaftliche Liebe sich in ihnen widerspiegelte. Seine Haare, sonst so rau und struppig, hatten mit Hilfe der Bürste und wohlriechenden Öles ihr weiches glänzendes Gelock wiedergefunden.
Als die Fourvilles sich verabschiedeten, wandte sich die Gräfin zu ihm:
»Wollen Sie Donnerstag einen Spazierritt mit uns machen, lieber Vicomte?«
»Mit dem grössten Vergnügen, Frau Gräfin«, sagte er, sich verbeugend, während Jene Johannas Hand ergriff und zärtlich lächelnd mit ihrer weichen bezaubernden Stimme sagte:
»Ach, wenn Sie gesund sind, werden wir zu Dreien durch das Feld galoppieren. Das wird prächtig werden. Wollen Sie?«
Mit einer anmutigen Bewegung schürzte sie ihr Reitkleid und schwang sich mit der Leichtigkeit eines Vogels in den Sattel; ihr Gemahl grüsste linkisch, kletterte schwerfällig auf seinen großen normannischen Braunen und plumpste wie ein Centaur in den Sattel.
»Welch prächtige Leute!« rief Julius begeistert, als sie bei der Barrière um die Ecke bogen. »Das ist eine sehr wertvolle Bekanntschaft für uns.«
»Die kleine Gräfin ist bezaubernd«, stimmte Johanna bei, die sehr zufrieden war, ohne recht zu wissen warum, »aber der Mann hat ein sehr raues Äussere. Wo hast Du sie denn kennen gelernt?«
»Ich traf sie zufällig bei Brisevilles!« sagte Julius, sich vergnügt die Hände reibend. »Der Mann ist freilich etwas ungehobelt. Er ist ein leidenschaftlicher Jäger; aber ein sehr vornehmer Mann.«
Das Diner verlief in sehr vergnügter Stimmung, als wenn ein verborgenes Glück im Hause eingezogen wäre.
Bis zu den letzten Tagen des Juli ereignete sich weiter nichts Besonderes.
Eines Dienstags abends, als sie unter der großen Platane um einen hölzernen Tisch sassen, der zwei kleine Gläser und eine Branntwein-Karaffe trug, stiess Johanna plötzlich einen leisen Schrei aus und presste beide Hände gegen die Hüften. Ein heftiger stechender Schmerz hatte sie plötzlich ergriffen und war ebenso schnell wieder verschwunden.
Aber nach zehn Minuten fühlte sie einen zweiten längeren, wenn auch weniger heftigen Stich. Nur mühsam konnte sie mit Hilfe ihres Vaters und ihres Mannes ins Haus zurückkehren. Der kurze Weg von der Platane bis in ihr Zimmer schien ihr endlos lang. Sie seufzte unwillkürlich und hätte sich am liebsten alle Augenblicke hingesetzt. In ihrem Innern spürte sie ein eigentümlich unerträglich drängendes Gefühl.
Ihre Zeit war eigentlich noch nicht da; sie erwartete ihr Wochenbett erst im September. Aber da man mit Recht ein aussergewöhnliches Ereignis befürchtete, so wurde ein Wägelchen bespannt und Papa Simon fuhr im Galopp davon, um den Arzt zu holen.
Als dieser gegen Mitternacht ankam, erkannte er auf den ersten Blick alle Anzeichen einer Frühgeburt.
Die Schmerzen hatten zwar im Bett etwas nachgelassen; aber eine unnennbare Angst schnürte Johanna die Kehle zusammen, eine entsetzliche Schwäche lag ihr in allen Gliedern; es berührte sie etwas wie eine Vorahnung, wie das geheimnisvolle Wehen des Todes. In solchen Augenblicken spürt man seinen Hauch so nahe, dass das Herz zu Eis erstarren möchte.
Alle möglichen Leute waren in dem Zimmer. Mama ächzte atemlos und bekümmert in einem Sessel. Der Baron rannte mit zitternden Händen überall herum, brachte alles mögliche herbei und beriet sich, völlig den Kopf verlierend, mit dem Arzte. Julius marschierte im Zimmer auf und ab. Seine Miene drückte Besorgnis aus, aber sein Herz war ruhig. Die Wittwe Dentu stand am Fussende des Bettes mit erwartungsvoller Miene; ihr Gesicht war das einer erfahrenen Frau, die nichts mehr in Erstaunen setzt. Krankenwärterin, Hebamme und Leichenfrau in einer Person, war sie diejenige, in deren Händen zuerst das ankommende Menschenkind lag, die seinen ersten Schrei vernahm, es zuerst abwusch und es in die ersten Windeln legte. Mit derselben Ruhe hörte sie die letzten Worte, das letzte Röcheln, sah sie die letzten Zuckungen der Sterbenden. Und ebenso machte sie deren letzte Toilette, wusch den entseelten Körper mit Essig, und hüllte ihn in das Totenkleid. So hatte sie sich für alle Ereignisse von der Wiege bis zur Bahre einen unerschütterlichen Gleichmut angewöhnt.
Die Köchin Ludivine und Tante Lison standen etwas versteckt an der Flurtüre.
Von Zeit zu Zeit stiess die Kranke einen leisen Klagelaut aus.
In den ersten zwei Stunden schien es, als ob das Ereignis lange auf sich warten ließ. Aber, als der neue Tag anbrach, nahmen die Schmerzen eine immer heftigere Gestalt an und wurden bald geradezu furchtbar.
Während ihr unwillkürlich einzelne Schreie zwischen den zusammengepressten Lippen entschlüpften, musste Johanna immer an Rosalie denken, die fast gar nicht gelitten, fast nicht einmal geseufzt hatte, und deren Kind, der Bankert, ohne Mühen und Qualen zur Welt gekommen war.
Unaufhörlich stellte sie in ihrem armen gequälten Herzen Vergleiche an. Sie haderte mit Gott, an dessen Gerechtigkeit sie so fest geglaubt hatte. Sie zürnte über die eigenmächtige Bevorzugung des Schicksals und tadelte im Stillen das Wort derer, die Recht und Gerechtigkeit predigten.
Zuweilen wurden die Anfälle so heftig, dass sie beinahe die Besinnung verlor. Sie hatte keine Kraft, keinen Lebensmut mehr; sie fühlte nur noch ihre furchtbaren Schmerzen.
In den Augenblicken der Ruhe musste sie stets den Blick auf Julius richten. Dann drang ein anderer Schmerz, ein geistiger, ihr durch die Seele. Sie erinnerte sich des Tages, wo ihre Zofe zu Füssen eben dieses Bettes gelegen hatte, ihr Kind im Schosse, den Bruder des kleinen Wesens, das so grausam jetzt ihr Inneres zerriss. Vor ihren Augen standen noch lebhaft alle Blicke, alle Bewegungen alle Worte ihres Gatten beim Anblick dieses Mädchens. Und jetzt las sie auf seinem Gesichte, als wären seine Gedanken darauf ausgeprägt, denselben Verdruss, dieselbe Gleichgültigkeit gegen sie wie gegen die andere, dieselbe Unzufriedenheit eines Egoisten, den der Gedanke ärgert, Vater zu sein.
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