Wie alt war sie eigentlich? Sie wusste es nicht und hielt sich noch für ein ganz kleines Mädchen. Sie hatte jede Erinnerung verloren.
»Sehen Sie, das Bewusstsein kehrt zurück!« hörte sie den dicken Herrn sagen. Und Mütterchen begann zu weinen.
»Nur ruhig, Madame!« begann der dicke Herr wieder. »Ich stehe jetzt für alles ein. Aber sagen Sie nichts; sprechen Sie von nichts. Wenn sie nur schliefe!«
Und es schien Johanna, als ob sie noch lange so regungslos dagelegen hätte, von einem tiefen Schlummer befangen. Sie suchte sich auch gar nicht die Vergangenheit ins Gedächtnis zurückzurufen, wie in einer unbestimmten Furcht, die Wirklichkeit vor sich auftauchen zu sehen.
Da, einmal, als sie erwachte, bemerkte sie Julius ganz allein bei ihr; und plötzlich kam ihr alles ins Gedächtnis zurück, als wenn ein Schleier gelüftet worden sei, der bis dahin die Vergangenheit bedeckt hatte.
Ein schrecklicher Schmerz durchzuckte sie und sie wollte fliehen. Sie streifte die Decke ab und sprang zum Bett hinaus. Aber ihre Füsse trugen sie nicht und sie fiel hin, Julius sprang hinzu und sie begann zu heulen, dass er sie nicht anrühren solle. Sie wehrte sich und wälzte sich auf dem Boden hin und her. Da öffnete sich die Tür und Tante Lison stürzte mit der Witwe Dentu herein, gefolgt von dem Baron und endlich auch von der Mama, die ganz bestürzt und atemlos herbeikeuchte.
Man brachte sie wieder ins Bett und sie schloss sofort krampfhaft die Augen, um nicht sprechen zu müssen und ungestört nachdenken zu können.
Mutter und Tante umarmten und küssten sie.
»Kennst Du uns jetzt wieder, Johanna, süsse liebe Johanna?« fragten beide wie aus einem Munde.
Sie antwortete nichts und stellte sich geistesabwesend. Dabei wusste sie ganz genau, dass der Tag bald zur Neige gehen würde. Die Nacht brach herein. Die Wärterin machte sich’s in ihrer Nähe bequem und ließ sie von Zeit zu Zeit trinken.
Sie nahm was man ihr reichte, ohne ein Wort zu sprechen; aber sie schlief nicht. Sie bemühte sich ängstlich nachzudenken und suchte in ihrer Erinnerung nach Dingen, die ihr entgangen waren. Es war, als ob ihr Gedächtnis durchlöchert sei, als ob es große leere Stellen enthalte, auf denen die Ereignisse keinen Eindruck hinterlassen hätten.
Erst ganz allmählich mit ungeheurer Anstrengung fand sie den Faden wieder.
Und nun verfolgte sie ihn mit zäher Hartnäckigkeit.
Mütterchen, Tante Lison und der Baron waren herübergekommen; sie musste also sehr krank gewesen sein. Und Julius? Was mochte er wohl gesagt haben? Wussten ihre Eltern alles? Und Rosalie? Wo war sie? Was sollte nun werden … ja was sollte werden? Da durchblitzte sie ein Gedanke – mit Papa und Mama nach Rouen heimkehren und zu leben wie früher. Sie würde Witwe sein; das wäre alles.
Dann gab sie genau auf alles Acht, was um sie herum vorging und was gesprochen wurde; sie verstand jetzt alles, ohne es sich merken zu lassen. Ruhig und mit einer gewissen List freute sie sich des wiederkehrenden Bewusstseins.
Eines Abends endlich fand sie sich allein mit der Baronin. »Mama!« rief sie leise. Sie war erstaunt beim Klange ihrer Stimme, die ihr ganz verändert vorkam.
»Mein Kind, meine liebe Johanna!« sagte die Baronin, ihre Hände ergreifend. »Kennst Du mich denn wieder, mein Töchterchen?«
»Ja, Mama, aber Du darfst nicht weinen. Wir haben viel zu besprechen. Hat Dir Julius gesagt, warum ich damals in den Schnee herausgelaufen bin?«
»Ja, mein Kind; Du hattest ein sehr gefährliches heftiges Fieber.«
»Das ist etwas anderes, Mama; das Fieber habe ich erst nachher bekommen. Ich meine, ob er Dir gesagt hat, warum ich dieses Fieber bekam und weshalb ich in den Schnee herauslief?«
»Nein, Herzchen.«
»Weil ich Rosalie in seinem Bette fand.«
Die Baronin glaubte, Johanna fantasiere wieder.
»Schlafe lieber, Kindchen«, sagte sie schmeichelnd. »Beruhige Dich und versuche zu schlafen.«
»Aber ich bin jetzt ganz bei klarem Verstande«, wehrte Johanna ab, »ich rede keinen Unsinn, Mütterchen, wie vielleicht in der letzten Zeit. Ich fühlte mich eines Abends sehr unwohl und ging herunter, um Julius zu rufen. Rosalie lag bei ihm im Bette. Ich verlor vor Schreck und Kummer den Verstand und bin in den Schnee hinaus gelaufen, um mich von der Küste ins Meer zu stürzen.«
»Ja, Herzchen, Du bist krank gewesen, sehr krank sogar«, sagte die Baronin abermals besänftigend.
»Darum handelt es sich nicht, Mama. Ich fand Rosalie bei Julius im Bett und will nicht länger bei ihm bleiben. Wir wollen zusammen nach Rouen zurückkehren und dort leben wie früher.«
»Nun ja, wie Du willst, mein Kind«, sagte die Baronin, der der Arzt ans Herz gelegt hatte, Johanna nicht zu widersprechen.
Aber die Kranke wurde ungeduldig.
»Ich merke ganz gut, dass Du mir nicht glaubst. Ruf mir, bitte, mal den Papa herein. Er wird mich schliesslich schon verstehen.«
Mamachen erhob sich schwerfällig, nahm ihre beiden Krückstöcke und ging schleppenden Schrittes hinaus. Nach einigen Minuten kehrte sie mit dem Baron zurück, der sie stützte.
Sie setzten sich beide ans Bett und alsbald begann Johanna ihre Geschichte. Sie schilderte alles, langsam, mit schwacher Stimme, aber mit voller Klarheit: den eigentümlichen Charakter ihres Mannes, seine Härten, seinen Geiz und schliesslich seine Untreue.
Als sie zu Ende war, sagte sich der Baron, dass es sich hier um keine Fantasien handle. Aber er wusste nicht, was er dazu denken und sagen sollte; geschweige denn, dass er zu irgend einem Entschluss gekommen wäre.
Er nahm sie bei der Hand mit jener zärtlichen Art, mit der er sie früher einzuschläfern wusste, wenn er ihr eine Geschichte erzählte.
»Höre mich, Kind; man muss mit Klugheit handeln. Man darf nichts überstürzen. Such mit Deinem Manne auszukommen, bis wir einen Entschluss gefasst haben … Willst Du mir das versprechen?«
»Ich verspreche es Dir«, murmelte sie, »aber wenn ich gesund bin, bleibe ich nicht länger hier. Wo ist Rosalie jetzt?« fügte sie dann leiser hinzu.
»Du wirst sie nicht wiedersehen«, antwortete der Baron. Aber sie gab nicht nach.
»Wo ist sie; ich will es wissen?«
Da teilte er ihr mit, dass sie zwar das Haus noch nicht verlassen habe, dass dies aber in allernächster Zeit geschehen würde.
Nachdem der Baron das Zimmer verlassen hatte, suchte er, noch glühend vor Zorn und in seinem Vaterherzen aufs tiefste gekränkt, sofort Julius auf.
»Ich komme, mein Herr«, sagte er schroff, »um Rechenschaft wegen Ihres Verhaltens gegenüber meiner Tochter zu verlangen. Sie haben sie mit ihrer Kammerzofe hintergangen. Das ist doppelt unwürdig.«
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