Das Diner dauerte lange, aber es wurde wenig dabei gesprochen. Julius schien ganz seine Frau vergessen zu haben.
Im Salon ließ sie sich hierauf durch das Kaminfeuer einschläfern. Ihre Mutter war wieder fest entschlummert. Einen Augenblick wurde Johanna wieder durch die Stimmen der zwei Herren wach, die über irgendetwas disputierten; und während sie ihre Gedanken zu sammeln suchte, fragte sie sich, ob sie auch bereits von diesem dumpfen Stumpfsinn der Gewohnheit befallen sei, den nichts mehr zu erwecken vermag.
Die Flamme des Kaminfeuers, bei Tage mild und rötlich, wurde jetzt hell, lebhaft und knisternd. Sie warf vorübergehend ihren großen Schimmer auf die Stickerei der Möbel, auf den Fuchs und den Storch, auf den einsamen Reiher, auf die Ameise und die Heuschrecke.
Der Baron näherte sich dem Feuer und streckte lächelnd seine flachen Hände gegen dasselbe aus.
»Ach, das brennt hübsch heute Abend«, sagte er. »Es friert, Kinder, es friert.«
Dann legte er eine Hand auf Johannas Schulter und deutete auf das Feuer.
»Siehst Du, Kindchen, das ist das Schönste und Beste auf der Welt, der Herd; der Herd mit den Seinigen darum. Darüber geht Nichts. Aber wie wär’s, wenn wir schlafen gingen? Ihr werdet müde sein, Kinder.«
Als die junge Frau auf ihr Zimmer gekommen war, fragte sie sich, wie es möglich sei, dass die Rückkehr nach ein und demselben Orte, den man zu lieben glaubt, sich so verschieden gestalte. Warum fühlte sie sich so zerschlagen; warum erschien ihr dieses Haus, diese teure Heimat, kurz alles, was bis dahin ihr Herz bewegt hatte, so geistestötend?
Plötzlich fiel ihr Auge auf die Uhr. Die kleine Biene bewegte sich stets von rechts nach links und von links nach rechts mit derselben gleichmässigen Hast über den bronzenen Blumen dahin. Beim Anblick dieses kleinen zierlichen Machwerks, das so täuschend dem Leben nachgeahmt war und dessen Pendelschlag wie das Klopfen einer Brust ertönte, fühlte Johanna sich von einem Gefühl der Zärtlichkeit ergriffen, das sie fast bis zu Tränen rührte.
Selbst als sie ihren Vater und ihre Mutter umarmte, hatte sie sich nicht so bewegt gefühlt. Das Herz hat eben seine Geheimnisse, die kein Vernünfteln ergründet.
Zum ersten Male seit ihrer Verheiratung ging sie allein schlafen; denn Julius hatte, seine große Ermüdung vorschützend, sich auf ein anderes Zimmer zurückgezogen. Es war übrigens von vornherein ausgemacht worden, dass Jedes sein eigenes Zimmer haben sollte.
Lange konnte sie nicht einschlafen, so war sie schon daran gewöhnt, nicht mehr allein zu liegen. Zudem störte sie der heftige Nordwind, der an dem Dach des Schlosses rüttelte.
Am anderen Morgen wurde sie durch einen hellen Schimmer geweckt, der ihr Bett mit rosigem Lichte färbte. Auch die völlig bereiften Fensterscheiben waren rot, als ob der ganze Horizont in Flammen stände.
Sie hüllte sich in einen großen Shawl und rannte ans Fenster, um es zu öffnen.
Ein kühler, reiner und gesunder Luftzug strömte ins Zimmer und umwehte ihr Gesicht, sodass bei der prickelnden Kälte ihr die Tränen in die Augen traten. An dem purpurumsäumten Horizont trat hinter den Bäumen des Parks, rötlich-glänzend und immer mehr anwachsend wie ein Traumgebilde, die Sonne hervor. Die mit weißem Reiffrost bedeckte Erde war hart und trocken; sie widerhallte unter den Schritten der Arbeitsleute. In dieser einen Nacht waren die letzten bisher noch belaubt gewesenen Zweige der Pappeln entblättert. Jenseits der Heide sah man die breite Linie der grünlich schimmernden Meeresflut mit weißen Schaumwellen gekrönt.
Auch die Platane und die Linde verloren bei dem heftigen Sturme rasch ihr Kleid. Bei jedem neuen Windstosse erhoben sich ganze Haufen von Blätter in die eisige Luft wie ein Schwarm aufgescheuchter Vögel. Johanna kleidete sich an, ging hinunter und entschloss sich, um doch irgendetwas zu tun, die Pächtersleute zu besuchen.
Die Martins erhoben vor Erstaunen die Hände und die Pächtersfrau küsste sie auf die Wangen; dann nötigte man ihr ein Gläschen Zwetschgengeist auf. Sie ging dann zu den Couillard’s, welche ebenfalls die Hände zusammenschlugen. Die Pächterin küsste sie auf die Stirn und sie musste ein Gläschen Johannisbeerwein trinken.
Hierauf kehrte sie zum Frühstück heim. Der Tag verlief wie der vorhergehende; nur war er kalt, wo jener feucht war. Und die übrigen Tage der Woche glichen genau diesen beiden, ebenso wie die weiteren Wochen des Monats dieser ersten glichen.
Allmählich verlor sich ihre Sehnsucht nach den fernen Landen. Die Gewohnheit lullte ihr ganzes Leben in eine Art widerstandslosen Schlaf ein, ähnlich wie gewisse Wässer die Eigenschaft haben, den Boden, den sie tränken, zu verkalken. Mehr und mehr entstand wieder bei ihr ein gewisses Interesse an die tausenderlei Kleinigkeiten des alltäglichen Lebens; sie begann sich den einfachen und harmlosen Beschäftigungen ihres Daseins mit Sorgsamkeit zu widmen. Es entwickelte sich bei ihr eine Art träumerische Melancholie; ihr Leben verlor das Zauberhafte, dem sie sich bisher hingegeben hatte. Was hätte ihr gefehlt? Wonach hätte sie Verlangen gehabt? Sie wusste es nicht. Sie besass keinen weltlichen Sinn und somit auch keine Vergnügungssucht, nicht einmal das Verlangen nach erreichbaren Freuden. Nach welchen übrigens? Alles verblasste langsam vor ihren Augen, es verwischte sich und nahm eine fahle trübe Färbung an, ähnlich wie die alten Möbel im Salon, die mit der Zeit verbleicht waren.
Ihr Verhältnis zu Julius hatte sich vollständig verändert. Seit ihrer Rückkehr von der Hochzeitsreise schien er ein ganz anderer geworden; wie ein Schauspieler, der seine Rolle vollendet hat und nun seine natürliche Miene wieder annimmt. Er bekümmerte sich kaum noch um sie, wenn er überhaupt noch mit ihr sprach. Jede Spur von Liebe schien plötzlich verschwunden zu sein. Nur ganz selten kam er noch nachts zu ihr ins Zimmer.
Er hatte die Vermögens-Verwaltung übernommen, beaufsichtigte die Güter, plagte die Arbeiter und verminderte die Ausgaben. Und indem er selbst sich die Manieren und das Wesen eines biederen Landedelmannes aneignete, verlor er allmählich die elegante vornehme Art, die er als Bräutigam besessen hatte. Er kam aus einem alten Jagdkostüm von grauem Samt mit kupfernen Knöpfen, das er unter seiner Junggesellen-Garderobe wieder aufgestöbert hatte, fast nicht mehr heraus, obschon es über und über voll Flecken war. Nicht mehr von dem Drange beseelt zu gefallen, hatte er aufgehört sich zu rasieren, sodass sein langer und schlecht zugestutzter Bart ihn unglaublich entstellte. Seine Hände waren nicht mehr wie einstmals sorgfältig gepflegt; und nach jeder Mahlzeit trank er vier oder fünf Gläschen Cognac.
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