Sie fragte sich, was sie jetzt machen sollte, indem sie sich ebenso nach geistiger wie nach körperlicher Beschäftigung umschaute. In den Salon zu ihrer schlafenden Mutter zurückzukehren, dazu hatte sie keine Lust; sie hätte lieber einen Spaziergang gemacht. Aber draussen schien es so öde zu sein, dass sie schon beim Betrachten der Umgebung vom Fenster aus eine Zentnerlast von Melancholie auf sich herabsinken fühlte.
Da kam ihr denn so recht zum Bewusstsein, dass es für sie nichts mehr, auch niemals mehr zu tun gab. Ihre ganze Jugendzeit über im Kloster hatte sie sich mit der Zukunft beschäftigt und Pläne geschmiedet. Unter dieser fortgesetzten Träumerei war ihr damals die Zeit vergangen, ohne dass sie es merkte. Dann kaum den engen Schranken des Klosters entwachsen, in dem ihre Jugendträume entsprungen waren, fühlte sie schon gar bald Herz und Sinn durch die Regungen der Liebe in Anspruch genommen. Den erhofften Mann sehen, ihn lieben, in kurzer Zeit heiraten, wie es bei solchen schnellen Entschliessungen üblich, in seinen Armen ruhen, ohne erst recht zur Besinnung zu kommen, das alles hatte sich wie im Fluge vollzogen.
Aber nun trat statt der sanften Gewohnheit der ersten Tage die raue Wirklichkeit des alltäglichen Lebens in ihre Rechte ein, welche allen undefinierbaren Hoffnungen, jener angenehmen aufregenden Erwartung des Unbekannten für immer die Tür schloss. Ja, jetzt war es aus mit allen Erwartungen.
Also weiter nichts mehr zu tun! heute nicht, morgen nicht und übermorgen nicht. Sie empfand das alles wie eine bittere Enttäuschung, eine langsame Vernichtung ihrer Hoffnungen.
Dann sprang sie auf und lehnte die Stirn an die kühlen Fensterscheiben. Nachdem sie eine Weile den Himmel betrachtet, an welchem düstere Wolken dahinzogen, entschloss sie sich, auszugehen.
War das dieselbe Flur, dasselbe Gras, dieselben Bäume wie im Mai? Wo war das sonnige Leuchten auf den Blättern, wo das poetische Grün des Rasens geblieben, auf dem der Löwenzahn emporflammte, die Klatschrose ihr blutrotes Haupt erhob, die Margheriten sprossten und die großen gelben Schmetterlinge zierlich von Blüte zu Blüte gaukelten? Auch dieses freudige Leben der Natur mit ihrem würzigen Duft, mit ihrer wohltuenden Fruchtbarkeit war dahin.
Da lagen die von anhaltenden Herbststürmen zerzausten Alleen vor ihr; die Pappeln streckten ihre nackten Zweige zum Himmel empor, während fahles gelbes Laub den Boden unter ihnen wie ein Teppich bedeckte. Ihre dünnen Äste zitterten im Winde, der die letzten dürren Blätter abriss und im wilden Tanze durch die Luft wirbelte. Unaufhörlich wie ein anhaltender trostloser Regen fielen die Blätter nieder, gelb wie große Goldstücke, bald hierhin, bald dorthin, fuhren vom Winde wieder aufgestöbert, nochmals empor, schleppten sich über den Boden hin, um endlich ihr letztes Ruheplätzchen zu finden.
Sie ging zum Bosquet; es machte einen traurigen Eindruck, wie ein Sterbezimmer. Die grüne Mauer, welche die lieblichen gewundenen Pfade voneinander trennte und ihnen etwas geheimnisvolles verlieh, war entblättert. Hier und dort streckten die Ziersträucher, welche sonst das Gehölz belebt hatten, ihre mageren Zweige empor. Das Geräusch fallender Blätter, welche der Wind schüttelte, abriss und in Haufen auf die Erde streute, klang wie das schmerzhafte Stöhnen eines langsam Dahinsterbenden.
Die kleinen Vögelchen hüpften mit schrillem Gezirp von Zweig zu Zweig, um irgendwo Schutz zu finden.
Durch den dichten Vorhang der Ulmen geschützt, welche dem Seewinde Abbruch taten, hatten die Linde und die Platane noch ihr Sommerkleid behalten; von den ersten Frösten getroffen, schienen sie jedoch die Farbe gewechselt zu haben, sodass die eine wie mit rotem Samt, die andere mit orangefarbener Seide bekleidet schien.
Johanna ging langsam in »Mütterchens Allee« längs dem Pachthof der Couillards auf und ab. Es lag wie eine drückende Vorahnung der endlosen Langeweile ihres zukünftigen einförmigen Lebens auf ihrer Seele.
Dann setzte sie sich auf die Rasenbank, wo Julius ihr zum ersten Mal von Liebe gesprochen hatte. Dort blieb sie träumend, kaum eines Gedankens fähig, sitzen; sie fühlte sich müde bis ans Herz hinan und hätte sich am liebsten niedergelegt, um diesen traurigen Tag zu verschlafen.
Plötzlich bemerkte sie eine Möve, welche vom Winde durch die Lüfte getragen wurde, und da fiel ihr der Adler ein, den sie da unten in Korsika im finstern Ota-Tale gesehen hatte. Ihr Herz empfand die lebhafte Erregung, welche der Gedanke an etwas Schönes, das weit hinter uns liegt, hervorruft. Mit einem Male sah sie die herrliche Insel mit ihrem eigenartigen Aroma wieder vor sich, ihrem Sonnenglanz, in dem die Orangen und Citronen reiften, mit den rosigen Gipfeln ihrer Berge, dem Azurblau ihrer Buchten und ihren Tälern, durch welche die Bächlein rieselten.
Da erweckten das feuchte raue Klima der Heimat, der melancholische Fall der Blätter und die vom Wind gejagten grauen Wolken in ihrem Herzen eine so grenzenlose Traurigkeit, dass sie nach Hause ging, um nicht laut aufweinen zu müssen.
Mütterchen schlummerte noch immer behaglich am Kamin; sie war der Melancholie dieser Tage so gewohnt, dass sie dieselbe nicht einmal bemerkte. Der Papa war mit Julius ausgegangen, um mit ihm von Geschäften zu sprechen. Schon senkte die Nacht ihre finsteren Schatten voraus in den großen Salon, den der Widerschein des Herdfeuers zuweilen grell beleuchtete.
Draussen konnte man beim Rest des Tageslichtes noch jene trübe Herbstnatur und den grauen Himmel beobachten, der über sich selbst zu weinen schien.
Bald darauf erschien auch der Baron, gefolgt von Julius. Kaum war er in den finstern Raum getreten, als er heftig läutete und rief: »Licht! aber schnell! es ist ja ganz traurig hier.«
Hierauf setzte er sich gemütlich an den Kamin. Seine feuchten Schuhe dampften in der Nähe des Feuers und der getrocknete Schmutz fiel von seinen Sohlen.
»Ich glaube sicher,« sagte er, sich behaglich die Hände reibend, »dass es kalt wird. Der Himmel ist im Norden ganz klar und dabei haben wir heute Vollmond. Es wird diese Nacht gehörig frieren.
Nun, Kleine«, wandte er sich an seine Tochter, »freust Du Dich, wieder in der Heimat bei den Eltern zu sein?«
Johanna wurde durch diese einfache Frage verwirrt. Sie warf sich an den Hals ihres Vaters und küsste ihn heftig, die Augen voll Tränen, als wollte sie um Verzeihung bitten; denn trotz aller Anstrengungen, vergnügt zu scheinen, war ihr so bitter weh ums Herz. Sie dachte an die Freude, welche sie sich von dem Wiedersehen mit den Eltern versprochen hatte und war erstaunt über die Kälte, welche jetzt ihre Zärtlichkeit lähmte. Es war ihr zu Mute wie Jemandem, der in der Ferne viel an seine Lieben daheim gedacht hat und beim Wiedersehen, gleichsam als sei er ihnen entfremdet, eine Art Stockung seiner Zärtlichkeit empfindet, bis erst mal die Bande des gemeinsamen Zusammenlebens sich wieder erneuert haben.
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