Er war jetzt alt geworden, ohne zu bemerken, wie das Leben verflog; denn das Gymnasium hatte ohne eigentliche Unterbrechung seine Fortsetzung im Büro gefunden und die Lehrer, vor denen er früher gezittert hatte, waren jetzt durch die Chefs ersetzt, vor denen er beinahe noch eine grössere Angst hatte. An der Schwelle dieser Büro-Despoten überlief ihn stets ein heiliger Schauer, und von dieser fortgesetzten Ängstlichkeit hatte er sich allmählich eine linkische Art des Auftretens, diese demütige Haltung, dieses gewisse nervöse Stottern angewöhnt.
Er kannte von Paris eigentlich nicht viel mehr, als ein Blinder, der von seinem Hunde täglich an denselben Standplatz geführt wird, und wenn er in seinem Sou-Blättchen die täglichen Neuigkeiten und Skandal-Geschichten las, so durchflog er sie wie hübsche Märchen, die eigens erfunden waren, um den kleinen Beamten etwas Unterhaltungsstoff zu bieten. Ein Mann der Ordnung, ein Reaktionär ohne bestimmte Parteirichtung, aber ein abgesagter Feind aller Neuerungen, überschlug er die politischen Nachrichten, welche sein Blatt übrigens, je nachdem es bezahlt wurde, entsprechend entstellte. Und wenn er abends die Avenue des Champs-Elysées wieder heraufging, so betrachtete er die hin- und herwogende Menge der Spaziergänger und das Getriebe der Wagen, wie ein heimatloser Wanderer, der fremde Gegenden durchquert.
Da er zu eben dieser Zeit seine dreissig Dienstjahre hinter sich hatte, so hatte man ihm zum 1. Januar das Kreuz der Ehrenlegion überreicht, womit man bei den Militär-Verwaltungen die lange und elende Sklaverei -- man nennt sie: »Redliche Dienste« -- belohnt, in der diese armen Sträflinge am grünen Tische schmachten. Diese unerwartete Auszeichnung, welche ihm von seinen Befähigungen einen ganz neuen und hohen Begriff beibrachte, hatte in seinem Wesen eine vollständige Umwälzung hervorgerufen. Von nun an verbannte er seine farbigen Hosen und Fantasie-Westen; er trug nur noch schwarze Beinkleider und lange Überröcke, auf denen sein sehr breites Band sich besser ausnahm. Jeden Morgen war er glatt rasiert, seine Nägel pflegte er mit Sorgfalt, und alle zwei Tage wechselte er die Wäsche in einem ganz richtigen Gefühl der Hochachtung und Ehrfurcht vor dem nationalen Orden, den er trug. So war er über Nacht ein anderer, ein selbstbewusster, zugeknöpfter und herablassender Caravan geworden.
Zu Hause sprach er bei jeder Gelegenheit von »seinem Kreuze.« Er war darin so eifersüchtig, dass er nicht einmal im Knopfloch eines anderen irgend ein buntes Band sehen konnte. Vor allem ereiferte er sich beim Anblick fremder Orden, »die man in Frankreich gar nicht zu tragen erlauben sollte.« Er betonte dies besonders mit Bezug auf den »Doktor« Chenet, den er jeden Abend auf der Tramway mit irgend einer weiß-blauen, orangefarbenen oder grünen Dekoration im Knopfloch antraf.
Die Unterhaltung dieser beiden vom Arc de Triomphe bis Neuilly war übrigens täglich die gleiche; und auch heute beschäftigten sie sich, wie immer, mit lokalen Übelständen, über die sie sich beide ärgerten, während der Maire von Neuilly sie viel zu leicht nehme. Dann brachte Caravan, wie das in Gegenwart eines Arztes ja stets geschieht, das Gespräch auf das Kapitel der Krankheiten, indem er hoffte, auf diese Weise einige ärztliche Ratschläge gratis zu erhalten. Seine Mutter machte ihm übrigens seit einigen Tagen wirklich Sorgen. Sie hatte öfters längere Ohnmachtsanfälle und wollte sich dabei trotz ihrer neunzig Jahre noch keine Schonung auferlegen.
Ihr hohes Alter machte Caravan immer ganz weichmütig, und unaufhörlich fragte er den »Doktor« Chenet: »Haben Sie das schon oft erreichen sehen?« Und dabei rieb er sich immer ganz glücklich die Hände, nicht so sehr weil er glaubte, dass das Leben seiner Mutter auf Erden ewig dauern würde, sondern weil die lange Dauer des mütterlichen Lebens ihm selbst ein hohes Alter zu versprechen schien.
»Ja!« fuhr er fort, »in meiner Familie lebt man sehr lange; ich bin sicher, dass ich gleichfalls sehr alt werde, wenn nichts Besonderes eintritt.«
Der ehemalige Krankenpfleger warf einen mitleidigen Blick auf ihn. Er betrachtete einen Augenblick das rötliche Gesicht seines Nachbarn, seinen fleischigen Hals, seinen aufgetriebenen Leib, der sich zwischen zwei schwammigen fetten Schenkeln verlor, die ganze apoplektische Erscheinung des verweichlichten alten Beamten; und indem er mit einem Händedruck sich den grauen Strohhut zurechtrückte, antwortete er halb ernst, halb lachend:
»Nicht so sicher als Sie denken; Ihre Mutter ist die personifizierte Magerkeit und Sie sind die reine Poularde.«
Caravan wurde verlegen und schwieg.
Inzwischen hatte die Tramway ihren Haltepunkt erreicht und die beiden Herren stiegen aus. Herr Chenet schlug vor, einen Wermut im Café du Globe zu trinken, wo sie beide ihren Stammtisch hatten. Der Chef, ein alter Freund von ihnen, reichte ihnen zwei Finger, die sie über Flaschen und Gläsern hinweg schüttelten; dann begaben sie sich an einen Tisch, wo drei Liebhaber des Dominos schon seit Mittag beim Spielchen sassen. Freundschaftliche Redensarten, darunter das unvermeidliche »Was gibt’s Neues« wurden ausgetauscht. Hierauf setzten sich die Spieler wieder zu ihrer Partie und sie wünschten denselben einen guten Abend. Jene reichten ihnen die Hände, ohne von ihren Steinen aufzusehen, und die beiden Herren gingen zum Essen nach Hause.
Caravan bewohnte nahe beim Rondel von Courbevoie ein kleines zweistöckiges Haus, dessen Erdgeschoss ein Friseur innehatte.
Zwei Zimmer, ein Speisezimmer und eine Küche, in denen Rollsessel je nach Bedarf hin- und hergeschoben wurden, bildeten die beiden einzigen Räume, in denen Madame Caravan ihre Arbeitszeit zubrachte, während ihre zwölfjährige Tochter Maria-Louise und der neunjährige Sohn Philipp-August sich mit der ganzen Strassenjugend des Viertels in der Gosse herumbalgten.
Über sich hatte Caravan seine Mutter einlogiert, deren Geiz in der ganzen Umgegend berühmt war und von deren Magerkeit man sich sagte, dass der Herrgott bei ihr seine eigenen Sparsamkeits-Grundsätze angewandt habe. Stets schlechter Laune ließ sie keinen Tag ohne ihre besonderen Klagen und Heftigkeits-Ausbrüche vergehen. Sie zankte sich vom Fenster aus mit den Nachbarinnen vor der Türe, mit den Krämerfrauen, den Gassenkehrern und den Strassenjungen, die sie aus Rache beim Ausgehen von Weitem mit dem Rufe »Seht die Bettnässerin« verfolgten.
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