»Das tut sie absichtlich«, sagte Madame Caravan ärgerlich zu ihrem Gatten, »und Du hältst ihr immer noch die Stange.«
Er fühlte sich sehr unbehaglich so zwischen zwei Lagern, und schickte Marie-Louise, um die Großmutter zu holen; dann blieb er still mit gesenkten Augen sitzen, während seine Frau mit der Messerspitze nervös an den Fuss ihres Glases klopfte.
Plötzlich öffnete sich die Türe, das Kind kam allein, schreckensbleich zurück und sagte schnell:
»Großmama liegt auf dem Fussboden!«
Mit einem Sprung stand Caravan auf, warf seine Serviette auf den Tisch und stürzte die Treppe herauf, auf der sein hastiger Schritt dröhnend widerhallte, während seine Frau, die irgend eine Bosheit ihrer Schwiegermutter vermutete, langsam und achselzuckend folgte.
Die alte Frau lag mitten im Zimmer der Länge nach auf der Erde, und als ihr Sohn sie aufrichtete, erschien sie steif und unbeweglich, ihr runzliches gelbes Gesicht war fahl, die Augen waren geschlossen, die Zähne aufeinander gepresst und alles an ihr blieb leblos.
»Meine arme Mutter, meine arme Mutter!« seufzte Caravan, der bei ihr niedergekniet war. Aber seine Frau, welche sie einen Augenblick betrachtet hatte, sagte:
»Bah! sie hat nur einen Ohnmachtsanfall; das ist alles. Sie möchte uns nur am Essen hindern, glaube mir.«
Man trug den Körper aufs Bett, entkleidete ihn und alle, Caravan, seine Frau und das Dienstmädchen begannen ihn zu reiben. Trotz aller Anstrengungen kehrte das Bewusstsein nicht zurück. Da sandte man Rosalie zum Doktor Chenet. Er wohnte am Quai nach Suresnes zu. Es war weit und man musste lange warten, bis er kam. Nachdem er sie angeschaut, beklopft und behorcht hatte, sagte er:
»Das ist der Tod.«
Von heftigem Schluchzen erschüttert warf sich Caravan auf den leblosen Körper und bedeckte krampfhaft das starre Antlitz seiner Mutter mit Küssen; dabei weinte er so heftig, dass seine Tränen wie große Wassertropfen über das Gesicht der Toten rollten.
Madame Caravan jr. fand es schicklich, auch ihrerseits Trauer zu bezeigen, und hinter ihrem Manne stehend, stiess sie verschiedene Seufzer aus, während sie sich in auffallender Weise die Augen wischte.
Caravan, dessen Antlitz noch röter war wie sonst, und dessen dünne Haare in Unordnung um seine Stirn herumhingen, war in der Tat von aufrichtigem Schmerz aufs Tiefste ergriffen.
»Aber sind Sie auch sicher, Doktor … sind Sie ganz sicher? …« wandte er sich plötzlich um. Der ehemalige Krankenpfleger trat schnell wieder heran, und indem er den Körper mit geschäftsmässiger Sicherheit betastete, wie ein Kaufmann, der eine Ware prüfen will, sagte er:
»Hier, bester Freund, betrachten Sie das Auge.«
Er schob die Augenlider zurück und unter seinen Fingern schien der Blick der alten Frau fast unverändert, vielleicht mit etwas grösserer Pupille. Caravan gab es einen Stich ins Herz und ein Zittern überfiel seinen ganzen Körper. Herr Chenet ergriff den runzeligen Arm, öffnete mit Gewalt die Finger und fuhr mit eifriger Miene, als sei er auf Widerspruch gestossen, fort:
»Aber sehen Sie sich doch nur ’mal diese Hand an; seien Sie ruhig, ich täusche mich niemals.«
Caravan stürzte sich von Neuem ganz aufgelöst auf das Bett. Er brüllte fast vor Schmerz, während seine Frau, immer leise schluchzend, die notwendigen Vorkehrungen traf. Sie schob das Nachttischchen heran, auf dem sie eine Serviette ausbreitete, stellte vier Lichter darauf, die sie anzündete, nahm einen geweihten Buchsbaumzweig hinter dem Spiegel über dem Kamin hervor und steckte ihn zwischen zwei Kerzen in ein Glas, das sie mit Weihwasser anfüllte.
Als sie so die äusseren Zurichtungen getroffen hatte, um der Toten alle Ehre zu erweisen, blieb sie gedankenvoll stehen. Der Doktor, welcher ihr bei ihren Anstalten geholfen hatte, flüsterte ihr zu:
»Es wäre besser, Caravan herauszuführen.«
Sie machte ein Zeichen des Einverständnisses, und indem sie sich ihrem Manne näherte, der auf den Knien liegend immer noch schluchzte, griff sie ihm unter einen Arm, während Herr Chenet ihn unter den anderen nahm.
Man setzte ihn zuerst auf einen Stuhl, und seine Frau suchte ihm zuzureden, während sie ihn wiederholt küsste. Der Doktor unterstützte ihre Bemühungen. Er sprach von Ergebung, Willenskraft, Mannesmut und allem, was man bei solchen Gelegenheiten an Zuspruch verwendet. Dann griffen ihn beide von Neuem unter den Arm und führten ihn heraus.
Er weinte wie ein großes Kind, mit krampfhaftem Schluchzen, völlig hilflos, die Arme schlaff herunterhängend, während seine Knie schlotterten. Ohne zu wissen, was er tat, und maschinenmässig einen Fuss vor den anderen setzend, stieg er die Treppe herunter.
Man setzte ihn in den Sessel, der noch immer am Tische stand, vor seinen halbleeren Teller, in dem sich noch der Rest der Suppe befand. Da sass er nun, regungslos, das Auge auf sein Glas geheftet, so aufgelöst, dass er nicht ’mal mehr einen klaren Gedanken zu fassen vermochte.
Madame Caravan sprach in einer Ecke mit dem Doktor, erkundigte sich nach den notwendigen Formalitäten, und ließ sich allerlei praktische Ratschläge geben. Schliesslich nahm Herr Chenet, der auf irgendetwas gewartet zu haben schien, seinen Hut und wollte sich verabschieden, indem er erklärte, er habe noch nicht zu Abend gegessen.
»Wie?« rief sie, »Sie haben noch nicht zu Abend gegessen? Aber bleiben Sie doch bei uns, Herr Doktor, bleiben Sie doch! Sie müssen mit dem vorlieb nehmen, was wir haben; Sie wissen ja, ein großes Diner gibt es nicht bei uns.«
Er lehnte ab und bat, ihn zu entschuldigen. Aber sie bestand darauf:
»Warum wollen Sie nicht bleiben? Man ist in solchen Augenblicken glücklich, einen Freund bei sich zu haben. Und vielleicht können Sie meinem Manne zureden, sich etwas zu stärken. Er hat seine Kräfte jetzt doppelt notwendig.«
»Wenn es denn sein muss, Madame, so nehme ich dankend an«, sagte der Doktor, indem er unter einer Verbeugung seinen Hut wieder ablegte.
Sie gab Rosalie, die ganz aus dem Häuschen war, allerhand Befehle und setzte sich dann selbst mit an den Tisch, »um wenigstens so zu tun, als ob sie ässe, und um dem ›Herrn Doktor‹ Gesellschaft zu leisten.«
Man nahm zunächst die aufgewärmte Suppe, von der Herr Chenet sich noch einen zweiten Teller erbat. Dann erschien eine Platte Lyoner Salami welche einen starken Knoblauch-Geruch verbreitete, und von der auch Madame Caravan kostete.
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