»Was sagst Du«, stotterte er; »was sagst Du da?«
Sie konnte nun endlich wieder weinen und stammelte unter heftigem Schluchzen:
»Deshalb wollte ich Dich ja nicht heiraten, bloß deshalb. Ich konnte es Dir ja nicht sagen; Du hättest mich mit samt meinem Kinde brotlos gemacht. Du hast ja von so etwas keine Ahnung; Du weißt es nicht, Du fühlst das nicht.«
»Du hast ein Kind? Wirklich, Du hast ein Kind?« wiederholte er immer wieder maschinenmässig, mit stets wachsendem Erstaunen.
»Du hast mich mit Gewalt zur Deinen gemacht«, sagte sie unter heftigem Schluchzen. »Du weißt es doch noch? Ich wollte Dich ja gar nicht heiraten.«
Da stand er auf, zündete Licht an und begann, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer auf und ab zu gehen. Sie weinte fortwährend, sich in die Kissen vergrabend. Plötzlich blieb er vor ihr stehen:
»Also an mir liegt der Fehler?« sagte er. Sie antwortete nicht. Er ging wieder weiter, dann blieb er wieder stehen und fragte:
»Wie alt ist denn Dein Kleines?«
»Sechs Jahre ist es geworden«, murmelte sie.
»Aber warum hast Du es mir denn nicht gesagt?« fragte er wieder.
»Konnte ich das denn?« seufzte sie.
»Vorwärts!« sagte er, immer noch auf seinem Platze bleibend, »steh auf!«
Mit Mühe erhob sie sich. Dann als sie auf ihren Füssen stand, an die Mauer gelehnt, begann er plötzlich laut zu lachen; es war das gutmütige, herzliche Lachen früherer Tage. Und als sie noch fassungslos blieb, sagte er:
»Nun gut, wir wollen das Kind abholen, da wir doch kein andres haben.«
Sie war so verblüfft, dass sie im ersten Augenblick dachte, er sei närrisch geworden; und sie wäre davon gelaufen, wenn ihr die Kraft nicht gefehlt hätte. Aber der Pächter rieb sich die Hände und sagte halblaut vor sich hin:
»Ich wollte eins adoptieren, jetzt ist eins gefunden; wir haben schon eins. Ich hatte den Pfarrer um ein Waisenkind gebeten.«
Dann küsste er, immerfort lachend, seine ganz erstaunte sprachlose Frau auf beide Wangen und rief, als ob sie nicht gut hören könnte:
»Vorwärts, Mutter, lass sehen, ob es noch etwas Suppe gibt; ich ässe gern einen Teller voll.«
Sie zog ihren Rock an und beide gingen zusammen herunter. Während sie niederkniete und das Feuer unter dem Kessel wieder anzündete, ging er mit großen Schritten in der Küche auf und ab und wiederholte fortwährend ganz vergnügt:
»Ach, das macht mir wahrhaftig Spaß; es ist nicht zu glauben. Aber ich bin vergnügt, sehr vergnügt.«
*
Die Tramway von Neuilly hatte soeben die »Porte Maillot« passiert und fuhr nun die große Avenue entlang, welche auf die Seine zu führt. Die kleine Dampfmaschine, welche den Wagen zog, keuchte mächtig bei der starken Steigung der Strasse, und stiess ruckweise ihre Rauchwolken aus; es klang wie das Schnauben eines Laufenden, dem der Atem ausgeht, und die Eisenglieder ihrer Kolben brachten ein lebhaftes Geräusch hervor. Die erschlaffende Schwüle eines zur Neige gehenden Sommertages lag auf der Strasse, auf welcher sich trotz der Windstille eine dichte, weiße, erstickende und glühende Staubwolke erhob, die die feuchte Haut bedeckte und in Nase und Ohren drang.
Einzelne Leute traten unter die Türen, um etwas frische Luft zu schöpfen.
Die Scheiben des Wagens waren heruntergelassen, und bei der schnellen Fahrt flatterten die Vorhänge im Luftzuge. Nur wenige Personen befanden sich im Innern; denn bei diesen heissen Tagen zog man das Verdeck der Omnibusse vor. Es waren dies korpulente Damen mit auffallenden Toiletten, jene Sorte von Bewohnerinnen der Vorstädte, die das, was ihnen an Vornehmheit fehlt, durch eine gewisse unangemessene Steifheit zu ersetzen suchen; ferner abgearbeitete Büromenschen mit aufgeschwemmten Gesichtern und kurzer Taille, deren eine Schulter in Folge der ewigen vorgebeugten Haltung bei ihren Arbeiten etwas in die Höhe gezogen war. Ihre unruhigen und bekümmerten Mienen sprachen ausserdem noch von häuslichen Nöten, drohenden Geldsorgen und von der gänzlichen Vernichtung einstmals vielleicht glänzender Hoffnungen. Sie schienen alle zu jener Klasse armer Teufel zu gehören, die in einem jener kleiner weißgestrichenen Häuschen mit einem Stückchen Garten, wie man sie auf dem Lande in der Umgegend von Paris zu Tausenden findet, nur mit grösster Sparsamkeit ihr Dasein fristen.
Ganz nahe an der Türe sass ein kleiner untersetzter Herr mit aufgedunsenem Gesicht, dessen Bauch sozusagen zwischen seinen geöffneten Schenkeln ruhte. Er war ganz schwarz gekleidet und trug ein Ordensband im Knopfloch. Sein Gegenüber, mit dem er sich eifrig unterhielt, war ein großer, magerer Mann von nachlässigem Äusseren. Sein weißer Drillich-Anzug war sehr schmutzig, und auf dem Kopfe trug er einen alten ebenfalls stark mitgenommenen Panama-Hut. Der erste Herr sprach langsam, sodass er zuweilen den Eindruck eines Stotterers machte; es war Herr Caravan, Bürobeamter im Marineministerium. Der andere war früher Krankenwärter an Bord eines Handelsschiffes gewesen und hatte sich schliesslich in Courbevoie niedergelassen, wo er bei der ärmeren Bevölkerungsklasse den Rest von medizinischen Kenntnissen verwertete, den er sich aus seinem dunklen abenteuerlichen Leben bewahrt hatte. Er hiess Chenet und hörte sich gerne »Doktor« nennen; über seinen Charakter gingen allerlei Gerüchte herum.
Herr Caravan hatte von jeher das gleichmässige Leben eines Büromenschen geführt. Seit dreissig Jahren ging er unveränderlich jeden Morgen auf demselben Wege in sein Büro, begegnete zu derselben Stunde und an denselben Stellen denselben Leuten, die ihren Geschäften nachgingen; und ebenso kehrte er abends auf demselben Wege zurück, wo er noch dieselben Gesichter sah, die er schon vor dreissig Jahren gesehen hatte.
Jeden Tag, nachdem er sich an einer Ecke des Faubourg Saint-Honoré sein Sou-Blättchen gekauft, holte er sich seine zwei Brödchen und ging dann ins Ministerium, wie ein Verurteilter, der seine Haft antreten will; schnell trat er in sein Büro ein, denn er wurde die stete innere Unruhe nicht los, ob er nicht bei seiner Ankunft irgend einen Tadel wegen eines Versehens zu erwarten hätte.
Nichts hatte bisher die einförmige Ordnung seines Daseins geändert, denn ausser seinen Bürogeschäften, Avancements und Gratifikationen berührten ihn die sonstigen Ereignisse nicht. Mochte er nun im Ministerium oder in seiner Familie sein (er hatte nämlich die Tochter eines Kollegen, ohne jede Mitgift, geheiratet), niemals sprach er von etwas anderem als vom Dienst. Sein durch die geisttötende tägliche Arbeit verknöcherter Sinn hatte keine anderen Gedanken, keine anderen Träume und Hoffnungen mehr, als die, welche sich auf sein Ministerium bezogen. Aber eins verbitterte ihm stets die Selbstzufriedenheit seines Beamtendaseins: die Zulassung der Marine-Kommissare, der Klempner, wie man sie ihrer silbernen Litzen wegen nannte, zu den Stellen der Sous-Chefs und sogar der Chefs; und jeden Abend beim Essen demonstrierte er seiner Frau, die übrigens ganz seinen Groll teilte, unter lebhaften Gebärden vor, wie ungerecht es auf alle Fälle sei, die Stellen in Paris mit Leuten zu besetzen, die naturgemäss für das Seeleben bestimmt wären.
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