Auf dem Rückwege zum Pachthofe weinte sie die ganze Zeit. Kaum war sie angekommen, als der Pächter sie auch schon zu sich ins Zimmer rief. Sehr erstaunt und eigentümlich bewegt, ohne recht zu wissen warum, folgte sie dem Rufe.
»Setz Dich«, sagte er.
Sie setzte sich und so sassen sie einige Augenblicke nebeneinander, beide sehr verlegen, mit verschränkten Armen und ohne sich anzusehen, wie es eben Landleute zu machen pflegen.
Der Pächter, ein starker Mann in den Vierzigern, zweimal bereits Witwer, gutmütig und eigensinnig zugleich, zeigte diesmal eine Verlegenheit, die man sonst bei ihm nicht gewohnt war. Endlich raffte er sich auf und begann zu sprechen, ohne sie anzusehen, während seine Stimme zitterte und er sein Gesicht zum Fenster hinaus dem Felde zuwandte:
»Rosa«, sagte er, »hast Du niemals daran gedacht, Dir ein Heim zu schaffen?«
Sie wurde bleich wie der Tod; es war ihr unmöglich zu antworten.
»Du bist ein wackeres Mädchen«, fuhr er fort. »Eine Frau wie Du könnte einen Mann glücklich machen.«
Sie regte sich noch immer nicht; ihre Augen waren starr. Sie suchte nicht einmal den Sinn seiner Worte richtig zu verstehen; so sehr verwirrten sich ihre Gedanken wie beim Einbruch einer großen Gefahr. Er wartete noch einen Augenblick, dann begann er aufs neue:
»Ein Hof ohne Herrin, weißt Du, das geht auf die Dauer nicht, selbst mit einem Mädchen wie Du.«
Mehr wusste er für den Augenblick nicht zu sagen und schwieg daher. Rosa starrte ihn so verblüfft an, wie jemand, der einen Mörder vor sich sieht, und bereit ist, bei der ersten Bewegung desselben die Flucht zu ergreifen.
Nach fünf Minuten endlich fragte er:
»Na, sag mal! Passt es Dir also?«
»Was, Herr?« sagte sie mit blöder Miene.
»Nun, mich zu heiraten, Mädchen!« brach er endlich los.
Sie richtete sich plötzlich auf, dann sank sie aber wie gebrochen auf ihren Stuhl zurück, auf dem sie regungslos sitzen blieb, wie jemand, den ein schweres Unglück betroffen hat. Der Pächter wurde schliesslich ungeduldig.
»Nun so lass doch hören, was fehlt Dir denn eigentlich?« Sie betrachtete ihn wie geistesabwesend; dann traten ihr plötzlich die Tränen in die Augen und laut schluchzend rief sie:
»Ich kann nicht. Ich kann nicht!«
»Warum denn nicht?« fragte Jener. »Vorwärts, sei nicht kindisch; ich gebe Dir bis morgen Bedenkzeit.«
Und er ging eilig hinaus, überaus froh, dass er diese heikle Angelegenheit für heute hinter sich hatte. Er zweifelte nicht, dass morgen seine Magd einen Vorschlag annehmen würde, der ihr heute etwas unerwartet kommen musste; für ihn selbst konnte sich ja nichts Besseres finden, als dieser Ausweg, für immer ein Wesen an sich zu fesseln, das ihm sicherlich zehnmal mehr Vorteile brachte, als die beste Mitgift weit und breit.
Das Bedenken einer Missheirat konnte für sie beide nicht existieren; denn auf dem Lande sind alle untereinander mehr oder weniger gleich. Der Herr arbeitet wie sein Knecht, welcher nicht selten seinerseits auch ’mal Herr wird; und was die Mägde anbetrifft, so verwandeln sich diese jeden Augenblick in Hausfrauen, ohne dass in ihrem Leben und ihren Gewohnheiten deshalb eine große Veränderung eintritt.
Rose ging in jener Nacht nicht zu Bett. Sie sass auf demselben und hatte nicht ’mal mehr die Kraft zu weinen; so fassungslos war sie. Regungslos sass sie da; sie fühlte ihre Glieder kaum, und ihre Gedanken waren entschwunden, als hätte sie ihr jemand mit einem jener Instrumente herausgeschnitten, deren sich die Wollkämmer bedienen, um die Wolle der Matratzen auszuzupfen.
Hin und wieder nur sammelte sie mühsam einen Rest von Nachdenken und suchte sich auszumalen, was nun werden sollte.
Ihre Besorgnis wuchs immer mehr, und jedes Mal, wenn durch die tiefe Stille der Nacht die große Küchenuhr langsam den Verlauf einer Stunde ankündigte, brach ihr der Angstschweiß aus. Immer trüber wurde ihr Verstand, immer heftiger der Druck auf ihrem Kopfe, ihr Licht war ausgebrannt; zuletzt fing sie richtig an zu fiebern. Sie verfiel in eine Art leichten Fantasierens, wie man es gerade auf dem Lande bei Leuten findet, die sich von einem schweren Schicksalsschlage bedroht fühlen. Ein wahnsinniges Verlangen, demselben zu entgehen, abzureisen, gewissermassen vor dem drohenden Unheil zu flüchten, wie das Schiff vor dem Orkan, wurde in ihrem Herzen rege.
Vor ihrem Fenster klagte ein Käuzchen; zitternd fuhr sie in die Höhe, strich sich mit den Händen übers Gesicht, griff an ihre Haare und betastete sich wie eine Närrin am ganzen Körper. Dann stieg sie mit den Bewegungen einer Nachtwandlerin die Treppe herunter. Als sie auf dem Hofe ankam, kroch sie in gebückter Haltung weiter, um nicht etwa durch einen Knecht, der von einer Nachtschwärmerei vielleicht heimkehrte, überrascht zu werden; denn der Mond schien hell auf alle Gegenstände. Statt das Tor zu öffnen, kroch sie über die Böschung, und erst, als sie sich im freien Felde befand, wagte sie aufrecht weiter zu gehen. Sie ging geradeaus mit vorgebeugtem Kopf und flüchtigem Schritt, und stiess unwillkürlich von Zeit zu Zeit einen durchdringenden Schrei aus. Ihr Schatten fiel in riesigen Umrissen auf den Boden und verfolgte sie wie ein Gespenst; zuweilen flog ein erschreckter Nachtvogel auf und flatterte mit mattem Flügelschlage über ihrem Haupte. Die Hofhunde bellten, wenn sie ihren Schritt vernahmen. Einer sprang heraus und folgte ihr bissig nach; aber sie wandte sich mit einem solchen Geheul zu ihm herum, dass er mit eingeklemmten Schweif davon rannte, in seine Hütte kroch und sich leise wimmernd ausstreckte.
Auf einem Felde spielte ein ganzes Rudel Hasen; als aber die flüchtige Wanderin gleich einer rasenden Diana daherkam, stoben sie schleunigst auseinander. Die Jungen duckten sich mit der Alten in eine Furche, während der alte Rammler fast nach jedem Sprunge ein Männchen machte und sichernd seine großen Löffel spitzte. Das Licht des untergehenden Mondes warf seinen Schatten in zehnfacher Vergrösserung auf den hellen Acker, sodass er nicht minder gespenstig aussah, wie das dahineilende Weib. Der Mond glich einer riesigen Laterne, die am Rande des Horizontes niedergestellt war.
Am Himmel verlöschten die Sterne einer nach dem anderen; einzelne Vögel begannen zu piepen. Der Tag brach an. Die arme Rose keuchte vor Anstrengung, und als aus dem Purpur-Vorhang des Morgenrotes die Sonne hervortauchte, stand sie still.
Ihre geschwollenen Füsse verweigerten den Dienst, aber sie bemerkte in der Nähe ein Wasser, einen großen Teich, dessen unbewegliche Fläche im Scheine der aufgehenden Sonne blutig-rot schien. Langsam, die Hand auf das heftig pochende Herz gedrückt, hinkte sie auf denselben zu, um ihre Füsse in das Wasser zu tauchen.
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