So stand er da, von einem neuen Anfall seiner trostlosen Verzweiflung erfasst. Es war, als habe plötzlich ein Lichtstrahl ihm die ganze Ausdehnung seines Unglücks beleuchtet; und bei dem Wiederempfinden dieses flüchtigen Hauches fühlte er sich in den tiefsten Abgrund des bittersten Schmerzes geschleudert. Der Gedanke an die Trennung für immer zerriss ihm das Herz. Er sah sein Leben in zwei Abschnitte geteilt, von denen der eine jetzt mit allen Erinnerungen seiner Jugendzeit durch diesen Todesfall für immer vor seinen Augen verschwand. Das ganze »Einstmals« war für ihn zu Ende. Niemand würde mehr mit ihm von vergangenen Zeiten reden können, von Leuten, die er früher gekannt hatte, von seiner Heimat, von ihm selbst, von allen Einzelheiten seines verflossenen Lebens. Ein Teil seines eigenen »Ich« hatte aufgehört zu existieren; jetzt brach die Zeit des Sterbens für den anderen heran.
Und nun zogen langsam die Erinnerungen an ihm vorüber. Er sah »die Mama« wieder vor sich, als sie noch viel jünger war, mit Kleidern, die sie so lange trug, bis sie gänzlich aufgebraucht waren, sodass sie mit der Vorstellung von ihrer Person unzertrennlich verbunden waren. Er fand sie unter tausenderlei längst vergessenen Verhältnissen wieder; ihre längstverschwundenen Gesichtszüge, ihre Gebärden, ihre Gewohnheiten, ihre besonderen Neigungen, die Falten auf ihrer Stirn, die Haltung ihrer mageren Finger, alle diese vertrauten Einzelheiten traten ihm jetzt wieder vor die Seele.
Und indem er sich fest an den Doktor klammerte, stiess er einen Seufzer nach dem andren aus. Seine schlotternden Knie wankten, seine ganze umfangreiche Figur wurde von heftigem Schluchzen erschüttert.
»Meine Mutter, meine arme liebe Mutter« stammelte er ein über das andere Mal.
Sein Begleiter, der immer noch angeheitert war und sich mit der Absicht trug, den Abend an irgend einem jener Orte zu verbringen, die er im geheimen zu besuchen pflegte, wurde über diesen heftigen Traueranfall sehr ungeduldig. Er redete ihm zu, sich etwas am Ufer ins Gras zu setzen und verliess ihn nach einer Weile unter dem Vorwande eines dringenden Krankenbesuches.
Caravan sass hier lange und weinte sich aus. Endlich, nachdem seine Tränen versiecht waren und all sein Leid an seinem geistigen Auge sozusagen vorübergezogen war, fand er wieder etwas Trost, eine Art Ruhe, wie einen plötzlichen Stillstand seiner Gefühle.
Der Mond war aufgegangen und sein mildes Licht erleuchtete den Horizont. Silberne Reflexe brachen sich an den säuselnden Blättern der Pappeln, und das ferne Geräusch auf der Ebene klang nur noch wie das Fallen des Schnees; der Fluss trug keine Sterne mehr, dafür glänzte er aber wie eine Perlmutterschale, auf der einzelne goldglänzende Furchen gezogen schienen. Die Luft war milde und noch immer spürte man den würzigen Blütenduft. Es lag etwas Weichliches in diesem Schlummer der Erde, aber es passte zu Caravan’s Stimmung, und mit Behagen genoss er die liebliche Ruhe der Nacht. Er atmete langsam und glaubte zu fühlen, dass seinen ganzen Körper eine angenehme Frische, eine sanfte Ruhe und seine Seele ein überirdischer Trost durchdringe. Er kämpfte absichtlich gegen dieses behagliche Gefühl, indem er immer »meine Mutter, meine arme Mutter!« wiederholte, und sich in einer Regung natürlichen Anstandsgefühles zum Weinen zu zwingen suchte; aber er konnte nicht mehr weinen, er konnte selbst seinen Gedanken nicht mehr jene traurige Richtung geben, die ihn vorhin hatte so heftig schluchzen lassen.
Endlich erhob er sich, um nach Hause zu gehen; er machte kurze Schritte, wie wenn er sich von der Heiterkeit der ihn umgebenden Natur nicht trennen könnte, und sein Herz blieb wider Willen friedlich bewegt.
Als er an die Brücke kam, bemerkte er das Licht der letzten schon zur Abfahrt bereiten Tramway und weiter hinten die erleuchteten Fenster des Café du Globe.
Da überkam ihn das Bedürfnis, irgendjemanden sein Unglück zu erzählen, sein Mitleid zu erwecken, sich gewissermassen interessant zu machen. Er verfiel wieder in seine traurige Haltung, öffnete die Türe und ging auf das Buffet zu, wo der Chef allzeit thronte. Er hatte auf einen effektvollen Augenblick gerechnet, wie alle Welt auf ihn zukommen, ihm die Hand reichen und ihn fragen würde: »Nun, was haben Sie?« Aber niemand bemerkte sein verstörtes Wesen. Er stützte sich mit dem Ellnbogen auf das Buffet, begrub das Gesicht in den Händen und murmelte: »Mein Gott, mein Gott!«
Der Chef sah ihn an.
»Sie sind krank, Herr Caravan?«
»Nein, mein armer Freund!« antwortete er, »aber meine Mutter ist heute gestorben.«
Der andere machte ein zerstreutes »Ach!« und als ein Gast aus dem Hintergrunde des Zimmers »Bitte, ein Glas Bier« rief, antwortete er sofort überlaut: »Hier, sogleich! … es kommt schon« und stürzte fort, den verwunderten Caravan allein stehen lassend.
An demselben Tische, wo er sie vor dem Essen gesehen hatte, sassen noch die drei Dominoliebhaber bei ihrem Spiele. Caravan näherte sich ihnen mit einer Miene zum Erbarmen. Als ihn keiner zu bemerken schien, entschloss er sich, zuerst zu sprechen.
»Mir ist soeben ein großes Leid geschehen«, sagte er.
Sie hoben alle drei gleichzeitig den Kopf ein wenig, aber ihre Augen blieben auf die Steine geheftet, die sie in den Händen hatten. »Nun, was denn?« -- »Meine Mutter ist gestorben«. -- »Ach Teufel!« murmelte einer von ihnen mit jenem halbbetrübten Gesicht, wie es die Gleichgültigen zu machen pflegen. Ein zweiter, der nichts Rechtes zu sagen wusste, ließ eine Art mitleidigen Seufzer hören, indem er die Stirn in Falten zog, während der dritte sich dem Spiele wieder zuwandte, als dächte er: »Das ist auch weiter nichts.«
Caravan hatte ein oder andres jener Worte erwartet, die »von Herzen« zu kommen pflegen; als er sich aber so empfangen sah, ging er wieder fort. Ihre Gleichgültigkeit bei dem Kummer eines Freundes empörte ihn, wenngleich er selbst für den Augenblick ja keinen so tiefen Schmerz empfand.
Er trat wieder auf die Strasse hinaus.
Seine Frau erwartete ihn schon im Schlafgewande; sie sass auf einem kleinen Sessel nahe des offenen Fensters und dachte immerfort an die Erbschaft.
»Zieh Dich aus«, sagte sie, »wir können im Bett noch plaudern.«
Er schaute auf, und mit dem Auge nach der Zimmerdecke weisend, sagte er:
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