»Ausgezeichnet!« sagte der Doktor.
»Nicht wahr«, lächelte sie. »Nimm doch auch etwas, mein armer Alfred«, wandte sie sich an ihren Mann, »nur um etwas im Magen zu haben. Denke, dass Du noch die Nacht vor Dir hast.«
Er reichte mechanisch seinen Teller hin, wie er sich zu Bett gelegt haben würde, wenn man es ihn geheissen hätte; denn er folgte in allem ganz gedankenlos, zu keinem Widerstande fähig. So ass er auch.
Der Doktor, der sich selbst half, griff dreimal zu der Schüssel, während Madame Caravan von Zeit zu Zeit mit der Gabel ein großes Stück herausfischte und es sich gedankenlos in den Mund schob.
Als hierauf eine Salatschüssel voll Maccaroni erschien, murmelte der Doktor:
»Tausend, da kommt ’was Leckeres.«
Und Madame Caravan legte dieses Mal aller Welt vor; sie füllte sogar die Näpfe der Kinder damit, welche bei der mangelnden Aufsicht den Wein unvermischt tranken und sich bereits unter dem Tische wieder mit Fusstritten bearbeiteten.
Herr Chenet erinnerte sich an Rossini’s Vorliebe für diese italienischen Gerichte.
»Halt!« sagte er plötzlich, »habe ich da einen schönen Reim! man könnte ein ganzes Gedicht daraus machen:
Der Maëstro Rossini
Liebte die Maccaroni.«
Man hörte nicht mehr auf ihn. Madame Caravan war plötzlich nachdenklich geworden und überlegte alle wahrscheinlichen Folgen dieses Ereignisses, während ihr Gatte Brotkügelchen drehte, die er dann auf den Teller legte und starr, mit der Miene eines Idioten, anschaute. Da ein brennender Durst seine Kehle verzehrte, so brachte er alle Augenblicke das frischgefüllte Glas zum Munde. Sein Verstand, der bereits durch Erschütterung und Trauer hart mitgenommen war, wurde jetzt angeregt und schien ihm während seiner Verdauung über Schmerz und Kummer hinwegzutanzen.
Der Doktor trank übrigens wie ein Loch und wurde sichtlich angeheitert; auch Madame Caravan unterlag der Reaktion, die jeder nervösen Anspannung folgt. Sie war, obschon sie nur Wasser trank, gleichfalls aufgeregt und fühlte sich etwas verwirrt im Kopfe.
Herr Chenet begann verschiedene Toten-Geschichten zu erzählen, die ihm sehr scherzhaft erschienen. Denn in diesen Pariser Vorstädten, deren Bewohner in der Hauptsache ehemalige Provinzler sind, findet man noch diese Gleichgültigkeit des Landmannes gegen den Toten, mag es nun der Vater oder die Mutter sein, diese mangelnde Achtung, diese unbewusste Rohheit, die auf dem Lande so vielfach herrscht und in Paris selbst so selten ist.
»Denken Sie«, sagte er, »letzte Woche ruft man mich Rue de Puteaux; ich eile dahin, finde die Kranke verschieden und in der Nähe des Totenbettes die Familie damit beschäftigt, ruhig eine Flasche Anisette zu leeren, die man tags zuvor gekauft hatte, um eine letzte Laune der Sterbenden zu befriedigen.«
Aber Madame Caravan hörte nicht zu, da sie immerfort an die Erbschaft denken musste; und Caravan mit seinem umnebelten Gehirn verstand erst recht nichts davon.
Man brachte den Kaffee, der extra stark gemacht war, um die gute Stimmung zu erhalten. Jede Tasse, mit Cognak gewürzt, ließ auf den Wangen eine plötzliche Röte entstehen und vermehrte nur noch die Verwirrung, die der Alkohol und die seelische Erschütterung schon in diesen Gehirnen angerichtet hatten.
Dann bemächtigte sich der »Doktor« plötzlich der Flasche und schenkte jedem noch einen Abschiedstrunk ein. Und ohne ein Wort zu sprechen, in der angenehmen Wärme der Verdauung, ergriffen von jener tierischen Behaglichkeit, welche der Alkohol nach dem Essen verleiht, spülten sie sich langsam die Kehlen mit dem gezuckerten Cognak aus, der auf dem Boden der Kaffeetassen einen gelblichen Sirup bildete.
Die Kinder fingen an einzuschlafen und Rosalie brachte sie zu Bette.
Caravan, der wie jeder Unglückliche, das Bedürfnis fühlte, sich zu betäuben, nahm noch mehrere Gläschen Cognak zu sich, sodass seine bisher blöden Augen zu glänzen anfingen.
Endlich erhob sich der Doktor zum Fortgehen, und seinen Freund unterm Arm nehmend, sagte er:
»Komm, geh mit mir, die frische Luft wird Dir gut tun; wenn man sich durch etwas bedrückt fühlt, muss man sich Bewegung schaffen.«
Der andere gehorchte ohne Widerstand, nahm Hut und Stock und ging mit. Alle beide wandelten Arm in Arm bei dem hellen Sternenhimmel nach der Seine zu.
Ein balsamischer Hauch zog durch die laue Nacht, denn alle Gärten ringsumher standen zu dieser Jahreszeit in voller Blütenpracht, deren Duft, tagsüber weniger bemerkbar, sich beim Einbruch der Nacht zu verdoppeln schien und von dem leichten Abendlüftchen weit hinaus getragen wurde.
Die breite Strasse mit ihren beiden Reihen Gaslaternen lag bis zum Arc de Triomphe stumm und einsam vor ihnen. Aber da unten brodelte Paris wie ein siedender Topf. Ein unaufhörliches dumpfes Rollen schallte zu den einsamen Spaziergängern herüber, dem von Weiten her auf der Ebene zuweilen der grelle Pfiff eines mit voller Dampfkraft herankommenden oder abfahrenden Zuges antwortete.
Die frische Luft, welche den beiden Männern entgegenwehte, machte sie anfangs etwas betäubt, und erschütterte das Gleichgewicht des Doktors, während sie bei Caravan den Schwindel vermehrte, den er nach dem Diner verspürte. Er ging wie träumend einher; sein Geist war eingeschlafen und unfähig, einen ruhigen Gedanken zu fassen, ohne dass andrerseits sein Schmerz ein sehr heftiger gewesen wäre. Auch hier hinderte ihn die allgemeine geistige Erschlaffung, wirklich zu leiden; er fühlte vielmehr eine Art Erleichterung, wenn er den frischen balsamischen Duft der Frühlingsnacht einsog.
Bei der Brücke wandten sie sich rechts und empfanden mit Behagen den frischen Lufthauch, den ihnen der Fluss zusandte. Dieser floss hinter einem Vorhang von hohen Pappeln ruhig, fast melancholisch dahin; die Sterne schienen auf dem Wasser zu schwimmen und langsam von demselben fortgetragen zu werden. Ein feiner weißlicher Nebel, der auf dem jenseitigen Ufer lag, ließ eine Empfindung von Feuchtigkeit in die Lungen dringen und Caravan, bei dem dieser Dunst des Wassers alte Erinnerungen wach rief, blieb plötzlich stehen.
Er sah seine Mutter wieder vor sich wie damals in seiner Kindheit, dort unten in der Picardie, auf den Knien an dem kleinen Wasser, das durch den Garten floss und die Wäsche, die in einem Haufen neben ihr lag, eifrig waschend. Er hörte ihren Schlägel in dem ruhigen Schweigen der ländlichen Umgebung, er hörte ihre Stimme, wie sie rief: »Alfred, bringe mir Seife.« Und er spürte diesen selben Hauch von fliessendem Wasser, diesen selben Nebel, der aus der feuchten Erde aufsteigt, diese Waschhausluft, von der der Seifengeruch ihm unvergesslich geblieben war und den er gerade an diesem Abend, wo seine Mutter gestorben war, deutlich wieder zu riechen glaubte.
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