Sie hatte es also begriffen; ich möchte vielmehr sagen, sie hatte es sich gemerkt. Es war mir gelungen, das Bewusstsein oder noch besser die Empfindung der Stunde in ihr zu erwecken, wie man dies, allerdings ohne Hilfe einer Uhr, bei den Karpfen erreicht, indem man ihnen jeden Tag genau zu derselben Zeit Futter wirft.
Nachdem wir nun einmal soweit waren, erregte jede Art von Zeitmesser, die im Hause nur existierte, ihre Aufmerksamkeit in ganz besonderer Weise. Sie verbrachte ihre Zeit damit, sie zu betrachten, sie zu hören und auf die Glockenschläge zu warten.
Einmal passierte sogar etwas sehr Komisches. Das Schlagwerk einer kleinen eingelegten Uhr aus der Zeit Ludwigs XVI., welche man am Kopfende ihres Bettes aufgehängt hatte, war in Unordnung geraten. Sie bemerkte es wohl und wartete seit zwanzig Minuten, das Auge unverwandt auf die Zeiger geheftet, dass die Uhr zehn schlagen sollte. Aber als der Zeiger die Zahl überschritten hatte, war sie ganz verwundert, nichts zu hören; derart verwundert, dass sie sich hinsetzte, ohne Zweifel von einer ähnlichen Gemütsbewegung ergriffen, wie wir sie beim Anblick irgend eines großen Ereignisses haben. Sie hatte die auffallende Geduld, vor dem kleinen Ding bis elf Uhr zu warten, um zu sehen, was sich dann ereignen würde. Sie hörte natürlich wieder nichts; da ergriff sie, entweder im heftigen Zorn darüber, enttäuscht und betrogen zu sein, oder im ersten Drange der Bestürzung über ein furchtbares Geheimnis, oder schliesslich von rasender Ungeduld darüber verzehrt, dass ihr ein Hindernis entgegentrat, die Ofenzange, und schlug mit solcher Gewalt auf die Uhr los, dass sie im nächsten Augenblick in Trümmer ging.
Ihr Gehirn funktionierte also, es überlegte; wenn auch, wie ich zugeben muss, nur in sehr unklarer Weise und in sehr beschränktem Masse. Denn ich konnte sie nicht dazu bringen, die Personen ebenso wie die Stunden zu unterscheiden. Man musste, um eine Regung ihres geistigen Bewusstseins zu erzielen, an ihre Leidenschaften im wahren Sinne des Wortes appellieren.
Hierfür erhielten wir bald einen andren, leider sehr schrecklichen Beweis.
Sie war äusserlich wunderschön geworden, in der Tat eine typische Erscheinung, eine Art bewundernswerte aber geistlose Venus.
Sie war jetzt sechzehn Jahre alt, und selten habe ich in dem Alter eine ähnliche Fülle der Formen, eine ähnliche Feinheit und Vollendung der Züge gesehen. Ich nannte sie eine Venus, und sie war es in der Tat: Blond, zartgerundet, ebenmässig, mit großen, hellen, träumerischen Augen, deren Bläue der Hanfblüte glich; der Mund geschwungen, mit vollen runden Lippen, ein lieblicher, sinnlicher Mund, ein Mund zum Küssen.
Da trat eines Tages ihr Vater bei mir ein; er machte ein ernstes Gesicht und setzte sich, ohne meinen Gruss zu erwidern.
»Ich muss etwas ganz Wichtiges mit Ihnen besprechen«, sagte er. »Würde es möglich sein … kann man … Bertha verheiraten?«
Ich war starr vor Erstaunen und rief:
»Bertha verheiraten? … aber das ist ja unmöglich!«
»Ich weiß«, sagte er … »ja … aber denken Sie … Doktor … es könnte … vielleicht … wir haben gedacht … wenn sie Kinder hätte … das wäre für sie eine große Gemütsbewegung, ein Glück und … wer weiß, ob die Mutterfreuden ihren Geist nicht erwecken würden? …«
Ich war ganz verblüfft; das war nicht so unrichtig. Möglicherweise vermochte diese ganz neue Lage, dieser wunderbare Mutter-Instinkt, der im wilden Tiere ebenso wohnt wie im Herzen der Frau, und der die Henne sich dem Hunde entgegenstellen lässt, um ihre Küchlein zu verteidigen, auch in diesem fühllosen Menschenkopfe eine besondere Erregung, eine vollständige Umwälzung hervorzubringen und den bisher unbeweglichen Gedanken-Mechanismus in Gang zu setzen.
Mir fiel sofort ein Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung ein. Ich hatte einige Jahre vorher eine kleine Jagdhündin gehabt, die so ungelehrig war, dass ich nichts mit ihr anfangen konnte. Kaum hatte sie einmal Junge geworfen, als sie sozusagen von heute auf morgen, wenn auch nicht gerade hervorragend, so doch vielen mittelmässig entwickelten Hunden ähnlich wurde.
Kaum hatte ich diese Möglichkeit erwogen, als der Wunsch, Bertha verheiratet zu sehen, in mir immer reger wurde, wenn auch, offen gestanden, nicht so sehr aus Freundschaft für sie und ihre armen Eltern, als aus wissenschaftlichem Interesse. Wie würde es ausfallen? Das war ’mal wirklich ein merkwürdiges Problem!
»Vielleicht haben Sie Recht …« antwortete ich demgemäss dem Vater, »man könnte den Versuch machen … Versuchen Sie es … aber … aber … Sie werden niemals einen Mann finden, der sich darauf einlässt.«
»Ich habe schon einen«, sagte er halblaut.
Aufs Neue betroffen stammelte ich:
»Einen geeigneten?… Einen aus … Ihren Kreisen?«
»Ja«, antwortete er, »vollkommen.«
»Ach! Und … darf ich seinen Namen wissen?«
»Ich wollte ihn gerade Ihnen nennen und Sie um Ihre Ansicht über ihn bitten. Er heisst Gaston du Boys de Lucelles!«
»Der Elende!« hätte ich beinahe ausgerufen, aber ich bezwang mich noch rechtzeitig, und nach kurzem Schweigen sagte ich:
»Ja … sehr gut. Ich sehe kein Hindernis.«
Der arme Mann drückte mir die Hand:
»Die Hochzeit wird nächsten Monat sein« sagte er.
*
Gaston du Boys de Lucelles war ein Taugenichts aus guter Familie, der, nachdem er sein väterliches Erbteil verzehrt und sich eine hübsche Anzahl zum Teil sehr bedenklicher Schulden aufgeladen hatte, nach irgend einer Gelegenheit suchte, um sich aufs Neue Geld zu beschaffen.
Jetzt hatte er sie gefunden.
Er war im Übrigen ein hübscher ansehnlicher Bursch, aber ein Wüstling, von jener Sorte Lebemänner aus der Provinz, die mir so verhasst sind. Ich glaubte indessen, dass er ein für unsere Zwecke ganz passender Ehemann sein würde, dessen man sich nötigenfalls später mit Hilfe einer entsprechenden Pension wieder entledigen könnte.
Er kam jetzt täglich ins Haus, um sich liebenswürdig zu machen und dem hübschen geistesschwachen Mädchen, das ihm übrigens wirklich zu gefallen schien, die Kour auf seine Weise zu schneiden. Er brachte ihr Blumen, küsste ihr die Hand, setzte sich zu ihren Füssen und sah sie mit zärtlichen Augen an; aber sie nahm von seinen Aufmerksamkeiten so gut wie gar keine Notiz und machte in keiner Weise einen Unterschied zwischen ihm und den übrigen Personen ihrer Umgebung.
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