»Wo speisen Sie?«
»Nahebei, in einem kleinen Restaurant.«
»Ganz alleine?«
»Natürlich.«
»Wollen Sie nicht mit mir zusammen speisen?«
»Wo denn?«
»In einem guten Boulevard-Restaurant.«
Sie zögerte noch etwas, aber ich gab nicht nach. Schliesslich willigte sie ein, indem sie sich gleichsam vor sich selbst entschuldigte:
»Ich langweile mich sehr … ach so sehr! -- Jedenfalls muss ich aber eine hellere Toilette anlegen«, fügte sie dann hinzu.
Und sie ging in ihr Schlafzimmer.
Als sie wieder heraustrat, war sie in Halbtrauer, reizend, zart und schlank; sie trug eine graue, sehr einfache Toilette. Jedenfalls stand ihr diese Gesellschafts-Toilette mindestens so gut, wie vorher das Trauer-Kostüm.
Das Diner verlief sehr lustig. Sie trank Champagner, wurde immer aufgeräumter und zutunlicher, und schliesslich kehrte ich mit ihr wieder in ihre Wohnung zurück.
Dieses an den Grabstätten entstandene Verhältnis dauerte ungefähr drei Wochen. Aber man wird schliesslich alles leid, auch die Frauen. Ich trennte mich von ihr unter dem Vorwande einer unaufschiebbaren Reise. Bei meinem Abschied bewies ich mich so großmütig, dass sie des Dankes kein Ende fand. Ich musste ihr versprechen, ja schwören, dass ich nach meiner Rückkehr wieder zu ihr kommen würde; sie schien in der Tat etwas in mich verliebt zu sein.
Ich unterhielt mich mit anderen Verhältnissen und es verging ungefähr ein Monat, ohne dass ich daran dachte, diese kleine Gräber-Liebschaft wieder zu erneuern. Vergessen hatte ich sie allerdings noch nich … Die Erinnerung an sie verfolgte mich wie ein Geheimnis, wie ein psychologisches Rätsel, wie eine jener unlösbaren Fragen, die wir uns unausgesetzt zu entwirren quälen.
Eines Tages hatte ich das lebhafte Gefühl, ich weiß selbst nicht warum, dass ich sie auf dem Friedhof Montmartre wiederfinden würde, und ich begab mich kurz entschlossen dorthin.
Langsam spazierte ich dort herum, ohne jemand anderes anzutreffen, als die gewöhnlichen Besucher dieser Stätte, Leute, die noch nicht alle Beziehungen zu ihren Toten abgebrochen haben. Auf dem Grabe des in Tonkin gefallenen Kapitäns war weder eine trauernde Dame zu entdecken, noch auch Blumen oder ein Kranz.
Aber als ich mich gerade in ein anderes Viertel dieser großen Totenstadt begeben wollte, bemerkte ich plötzlich am Ende einer schmalen von Kreuzen eingefassten Gasse ein Paar, Herr und Dame, in tiefer Trauer auf mich zukommen. Wer beschreibt mein Erstaunen, als ich die sich Nähernden erkannte? Sie war es!
Als sie mich bemerkte, wurde sie feuerrot, und als ich sie im Vorbeigehen streifte, machte sie mir ein kleines Zeichen, ein Zwinkern mit dem Auge, als ob sie sagen wollte: »Tue nicht, als ob Du mich kenntest!« aber auch zugleich: »Komm bald wieder mal zu mir, mein Schatz!«
Der Herr sah anständig vornehm und elegant aus; er trug das Band der Ehrenlegion im Knopfloch und mochte ungefähr fünfzig Jahre alt sein.
Er stützte sie im Gehen, wie ich selbst sie gestützt hatte, als wir zusammen den Kirchhof verliessen.
Ganz verblüfft ging ich von dannen und fragte mich nach allem dem vergeblich, zu welcher Sorte von Menschen wohl diese Kirchhof-Pflanze gehören möchte. War es einfach eine Dirne, eine findige Donna, die ihre Kunden an den Gräbern unter Männern suchte, die noch um eine Frau, eine Braut oder eine Freundin trauern und die verschwundenen Liebesfreuden noch nicht vergessen können? War sie die einzige? Gibt es deren mehrere? Etwa eine ganze Zunft? Treibt man es jetzt auf den Kirchhöfen wie auf der Gasse? Ach! sogar die Gräber! Oder war sie vielmehr doch die Einzige gewesen, die diese wunderbare Idee ausgeheckt hatte und mit schlauem Verständnis den Schmerz über verlorenes Liebesglück ausbeutete, der hier an dieser Stätte unwillkürlich neu erwacht?
Eines hätte ich allerdings noch gern erfahren mögen, nämlich: »Wessen Witwe sie wohl an jenem Abend gespielt hat.«
*
Im letzten Sommer hatte ich ein kleines Landhaus am Ufer der Seine, einige Meilen von Paris, gemietet und fuhr jeden Abend hinaus, um die Nacht dort zu verbringen. Nach einigen Tagen lernte ich meinen Nachbar, einen Mann von dreissig bis vierzig Jahren kennen, den komischsten Kauz, den ich je gesehen habe. Es war ein alter Schiffsmann, aber ein leidenschaftlicher, wie man nur einen finden kann, stets beim Wasser, auf dem Wasser und im Wasser. Er hätte eigentlich in einem Boot zur Welt kommen sollen; und dass er noch einmal in einem Boote sein Leben beschliessen würde, stand bei mir fest.
Eines Abends, als wir am Seine-Ufer spazieren gingen, bat ich ihn, mir einige Geschichten aus seinem Schifferleben zu erzählen. Da war der gute Mann mit einem Male lebendig und wie umgewandelt; er wurde redselig und beinahe poetisch angehaucht. Für ihn gab es eben nur eine große, brennende unwiderstehliche Leidenschaft: den Fluss.
»Ach« sagte er, »wie viele Erinnerungen knüpfen sich für mich an diesen Fluss, den Sie da zu unsern Füssen rollen sehen. Sie anderen, Strassenbewohner, wissen gar nicht, was das zu bedeuten hat, ein Fluss. Aber hören Sie nur mal einen Fischer dieses Wort aussprechen! Für ihn ist der Fluss etwas Geheimnisvolles, Tiefes, Unbekanntes, das Gebiet der Wunder und Gespenster, wo man bei Nacht Dinge sieht, die es gar nicht gibt, und Töne hört, die niemand kennt, wo man zittert, ohne zu wissen, warum, als wenn man auf einem Kirchhof wäre. Und in der Tat! ist dies nicht der traurigste aller Kirchhöfe, auf dem man nicht einmal einen Grabstein hat.
Das Land ist dem Fischer zu eng; aber der Fluss ist ihm selbst in finsterer Nacht, wenn kein Mondlicht leuchtet, ein unbegrenztes Gebiet. Der Seemann hat nicht die gleiche Empfindung auf der See. Diese ist oft wild und ungeberdig, allerdings; aber sie seufzt, sie stöhnt und tobt vorher, sie benimmt sich also ehrlich. Der Fluss hingegen ist stumm und hinterlistig. Er grollt nicht, er fliesst geräuschlos Tag für Tag dahin, und gerade diese ewig gleichmässige Bewegung des dahinfliessenden Wassers ist für mich viel ergreifender, als die turmhohen Wogen des Ozeans.
Schwärmer behaupten, dass sich auf dem tiefsten Grunde des Meeres unermesslich große bläuliche Felsen befänden, auf denen die Ertrunkenen mitten zwischen den großen Fischen durch das Gezweige seltsamer Wälder in kristallene Grotten gewälzt würden. Der Fluss hat nur schwarze Untiefen, auf deren Grunde man verfault. Aber er ist doch schön, wenn er von der aufgehenden Sonne bestrahlt wird und leise murmelnd mit seinen Wellen am schilfbedeckten Ufer plätschert.
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