Eine Zigarrette rauchend, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, auf dem vor ihm ein halbvolles Glas »fine Champagne« stand, und mit Behagen den Duft einziehend, welcher sich aus dem aromatischen Tabak im Verein mit dem dampfenden Kaffee entwickelte, schien er ganz in sich gekehrt, wie es einzelne Personen an gewissen Orten und zu gewissen Zeiten zu sein pflegen.
Zwei Rauchwolken von sich blasend, sagte er dann nach einigen Minuten dieses brütenden Schweigens:
»Mir ist vor einiger Zeit eine seltsame Geschichte passiert.«
»Erzähle!« tönte es gleichzeitig aus aller Munde.
»Sehr gern«, entgegnete er. »Ihr wisst, dass ich sehr viel in Paris herumspaziere, wie die Raritätensammler, welche alle Schaufenster und Läden durchstöbern. Mich interessiert alles, die Leute, das Gedränge, kurz alles, was an mir vorübergeht und alles, was um mich herum vorgeht.
Schön! Eines Tages, Mitte September, verliess ich, angelockt durch das herrliche Wetter, meine Wohnung, und schlenderte zunächst planlos durch die Strassen. Man hat stets das unbestimmte Bedürfnis, irgend einer hübschen Dame seinen Besuch zu machen. Man durchstöbert im Geiste die ganze Reihe seiner Bekannten, vergleicht den Reiz der einen und das Interesse, welches sie uns einflösst, mit den Eigenschaften der Andren, und entscheidet sich schliesslich je nach der Laune, die man an diesem Tage gerade hat. Aber wenn die Sonne so herrlich scheint und die Luft so milde ist, vergeht einem manchmal die Lust zu jedem Besuche.
So ging es auch mir damals, und ich zündete mir eine Zigarre an, um stumpfsinnig dem äusseren Boulevard zuzustreben. Dann kam mir, als ich dort spazieren ging, plötzlich der Gedanke, den Kirchhof auf dem Montmartre zu besuchen.
Ich gehe gern auf einen Kirchhof; es bringt mir das eine gewisse melancholische Ruhe, der ich zuweilen bedarf. Und dann hat man ja auch so manchen guten Freund da, den man im Leben nicht wiedersieht. Warum sollte ich also nicht zuweilen dahin gehen?
Und gerade auf den Kirchhof Montmartre zieht mich immer eine alte Herzensgeschichte. Dort ruht eine Freundin von mir, die mich viel gequält und viel geliebt hat, ein reizendes kleines Frauchen, an die ich oft mit Verdruss, oft aber auch mit Bedauern … ja mit großem Bedauern … zurückdenke … Da gehe ich dann, um an ihrem Grabe zu träumen … Sie hat nun ausgelitten!
Ich liebe auch die Kirchhöfe, weil sie mir immer wie große dichtbevölkerte Städte vorkommen. Denken Sie nur, wie viel Tote auf diesem engen Raume bei einander liegen, denken Sie nur an all’ die Generationen von Parisern, die dort wohnen, für immer wohnen, richtige Höhlenbewohner, die in ihren kleinen Höhlen da eingeschlossen sind, in ihren kleinen durch einen Stein oder ein Kreuz bezeichneten Löchern hausen, während die Lebenden, diese Toren, so viel Raum einnehmen und so viel Geräusch von sich machen.
Ausserdem gibt es noch auf den Kirchhöfen ebenso interessante Denkmäler wie in den besten Museen. Das Grabmal Cavaignac’s gibt mir schon Stoff zum Nachdenken, ohne es mit dem Meisterwerke Jean Goujon’s vergleichen zu wollen: Dem Bilde Ludwigs de Brezé, der in der unterirdischen Kapelle der Kathedrale von Rouen begraben liegt. All’ unsere sogenannte moderne und realistische Kunstrichtung, meine Herren, stammt von daher. Dieser tote Ludwig de Brezé ist wahrheitsgetreuer, grausenerregender, in seiner Leblosigkeit verkörperter, durch den Tod verzerrter, als alle die erkünstelten Leichname, die man jetzt auf die Grabdenkmäler meiselt.
Aber auf dem Kirchhof Montmartre kann man auch noch das großartige Denkmal Baudin’s bewundern, ferner dasjenige Gauthier’s und dasjenige Mürger’s; auf letzterem bemerkte ich eines Tages einen armseligen Kranz aus verblichenen Immortellen. Wer mochte ihn gebracht haben? Vielleicht die letzte Grisette, die jetzt, alt und runzelig, irgendwo in der Nähe als Türschliesserin ihr Leben fristete. Das Ganze ist eine Statuette, das Werk Millet’s, an dem aber Schmutz und Vernachlässigung ihr Zerstörungswerk verrichten. O Jugendlied, o Mürger!
Hier war ich nun, auf dem Kirchhof Montmartre, und plötzlich umfing mich Traurigkeit, jene Art von Traurigkeit, die einem nicht gerade wehe tut, sondern die uns mehr zum Nachdenken stimmt und bei der wir uns sagen, wenn es uns noch wohl geht: »Das ist kein heiterer Ort hier, aber der Augenblick für mich ist noch nicht gekommen …«
Die herbstliche Stimmung, jene laue Feuchtigkeit, welche das Absterben der Blätter ankündigt, und die abnehmende Kraft der Sonnenstrahlen, die an zunehmende Schwäche und schwindendes Leben erinnert, vermehrten in mir das Gefühl der Einsamkeit und die Vorahnung vom Ende aller Dinge, welche diesen Ort umschweben. Es war, als hörte man von Weitem die Schwingen des Todes rauschen.
Langsam schritt ich durch diese Gräberstrassen, wo der Nachbar die Nachbarin nicht kennt, wo jeder für sich schläft und niemand mehr eine Zeitung liest. Ich begann die Grabinschriften zu studieren. Das ist, nebenbei bemerkt, eine der unterhaltendsten Beschäftigungen. Niemals habe ich über Labiche oder über Meilhac so herzlich lachen müssen, wie über die prosaische Komik so mancher Grabinschriften. Wahrlich, ihr Inhalt ist zwerchfellerschütternder, als die Bücher Pauls de Kock, wenn er auch nur auf Marmor oder Sandstein geschrieben ist.
Vor allem aber zieht es mich auf diesem Kirchhof immer nach dem einsam liegenden leeren Teil, der mit Cypressen und Taxus bewachsen ist; dem alten Quartier der Toten, das nun bald wieder neubesetzt sein wird, nachdem man die mit menschlichen Körpern genährten Bäume niedergehauen hat, um frische Leichen unter kleinen Marmorsteinen der Reihe nach hier zu betten.
Als ich hier eine Zeit lang geweilt und meinen Geist wieder erfrischt hatte, fühlte ich das Bedürfnis nach etwas Anderem und dachte mir, es sei Zeit, die letzte Stätte meiner kleinen Freundin aufzusuchen. Als ich nahe bei dem Grabe war, fühlte ich doch einen Stich im Herzen. Arme Kleine! Sie war so lieb und gut, so duftig und frisch … und jetzt! … wenn man das da öffnen würde! …
An das Gitter gelehnt klagte ich ihr ganz leise mein Leid, mochte sie es verstehen oder nicht. Schon wollte ich hierauf wieder gehen, als ich eine schwarzgekleidete Dame bemerkte, die in tiefer Trauer an dem nächsten Grabe kniete. Ihr zurückgeschlagener Crêpeschleier ließ mich einen hübschen Blondkopf entdecken, dessen Haare sich dem nächtlichen Schwarz ihrer Toilette gegenüber wie ein Schimmer des Morgenrots ausnahmen. Ich blieb noch.
Читать дальше