Sie war sichtlich von tiefem Kummer bedrückt. Das Gesicht in den Händen begraben, starr wie eine Bildsäule, ganz versunken in ihrem Schmerz, schien sie an ihren geschlossenen und mit den Händen bedeckten Augen eine ganze Reihe qualvoller Erinnerungen vorüberziehen zu lassen. Sie selbst glich einer Toten, die an einen Toten denkt. Dann erriet ich plötzlich, dass sie zu weinen begann, und zwar erriet ich es an einer kleinen Bewegung ihres Rückens, die dem Säuseln des Windes in einer Trauerweide glich. Zuerst weinte sie leise, dann stärker, mit heftiger Erschütterung von Hals und Schultern. Schliesslich nahm sie die Hände vom Gesicht; ihre glänzenden Augen, welche voll Tränen waren, ließ sie einer Irren gleich umherschweifen, wie wenn sie aus einem tiefen Traume erwachte. Sie sah, dass ich sie beobachtete und schien sich zu schämen, denn sie verbarg aufs neue ihr Gesicht in den Händen. Ihr Schluchzen wurde jetzt krampfhaft, und sie neigte das Haupt auf den kalten Marmor. Wie sie so ihre Stirne daran lehnte und der zurückgeschlagene um ihren Oberkörper wallende Schleier die weißen Kanten des Grabmals bedeckte, sah dieses aus, als wäre es mit einem neuen Trauerflor umwunden. Ich hörte sie plötzlich seufzen; dann sank sie zusammen und blieb mit dem Gesicht auf dem Stein regungslos und ohne Bewusstsein liegen.
Ich stürzte zu ihr hin, rieb ihr die Hände, hauchte ihr ins Gesicht und las zugleich die einfache Grabschrift: »Hier ruht Ludwig Theodor Carrel, Kapitän der Marine-Infanterie; er fiel vor dem Feinde in Tonkin. Betet für ihn.«
Dieser Todesfall hatte sich einige Monate vorher zugetragen, wie mir jetzt wieder einfiel. Ich war zu Tränen gerührt und verdoppelte meine Bemühungen, die schliesslich auch von Erfolg begleitet waren; sie kam wieder zu sich. Ich war sehr bewegt -- bei meinen vierzig Jahren habe ich noch ein weiches Herz. -- Bei ihrem ersten Augenaufschlag bemerkte ich, dass sie mir dankbar sein würde. Sie äusserte denn auch ihre Erkenntlichkeit unter neuen Tränenströmen und erzählte mir stückweise, von häufigem Schluchzen unterbrochen, ihre Geschichte. Der Kapitän war nach dem ersten Jahre ihrer Ehe in Tonkin gefallen; er hatte sie, die elternlose Waise, aus Liebe geheiratet, denn sie besass kaum genug, um die vorgeschriebene Kaution stellen zu können.
Ich tröstete und beruhigte sie, ich stützte sie und hob sie schliesslich vom Boden auf.
»Bleiben Sie nicht länger hier; kommen Sie!« sagte ich dann.
»Ich kann kaum einen Schritt gehen«, murmelte sie.
»Ich werde Sie stützen.«
»Danke, mein Herr! Sie sind sehr gütig. Auch Sie wollten gewiss einen Toten hier beweinen?«
»Jawohl, Madame!«
»Eine Tote?«
»Ja, Madame!«
»Ihre Gattin?«
»Nein, eine Freundin.«
»Man kann eine Freundin ebenso sehr lieben, wie eine Frau; die Neigung kennt kein Gebot.«
»Das ist wahr, Madame!«
So gingen wir zusammen fort, wobei sie sich auf mich stützte; indessen trug ich sie mehr über die Wege des Friedhofes, als dass ich sie führte. Als wir draussen waren, überfiel sie die Schwäche von Neuem.
»Ich fürchte, mir wird ganz schlecht«, murmelte sie.
»Wollen Sie irgendwo hereingehen und etwas zu sich nehmen?«
»Ach ja, mein Herr!«
Ich bemerkte in der Nähe eines jener Restaurants, wo sich die Leidtragenden nach beendetem Begräbnis zu stärken pflegen. Wir traten ein und ich ließ ihr eine Tasse heissen Tee geben, der sie sichtlich zu erquicken schien; ein flüchtiges Lächeln glitt über ihre Lippen. Sie sprach mir von ihrem Leben. Es sei so traurig, so unsäglich traurig, ganz allein im Leben zu stehen, ganz allein zu wohnen bei Tag und Nacht, Niemanden mehr zu haben, dem man Zärtlichkeit, Liebe und Vertrauen schenken könne.
Das alles klang so natürlich, so lieblich geradezu aus ihrem Munde. Mir wurde ordentlich warm ums Herz. Sie war noch sehr jung, zwanzig Jahre vielleicht. Ich machte ihr einige höfliche Redensarten, die sie gern anzunehmen schien. Dann schlug ich ihr nach Verlauf einer Stunde vor, sie in einem Wagen nach Hause zu bringen, worauf sie dankbar einging. Im Fiaker sassen wir so dicht neben einander, Schulter an Schulter, dass ich ihre Körperwärme durch meine Kleider hindurch fühlte; die sinnverwirrendste Empfindung übrigens, die ich kenne.
Als der Wagen vor ihrem Hause hielt, sagte sie mit schwacher Stimme:
»Ich komme alleine nicht die Treppe herauf, denn ich wohne im vierten Stock. Sie waren schon so gut; wollen Sie mich noch bis an meine Tür führen?«
Wer war dazu bereiter wie ich? Sie ging langsam, fast bei jedem Schritt schwer aufatmend. Dann sagte sie, als wir vor ihrer Tür angelangt waren:
»Treten Sie doch einen Augenblick ein, damit ich Ihnen danken kann.«
Und meiner Seel! ich zögerte nicht lange.
Ihre Einrichtung war bescheiden, sogar ein wenig ärmlich, aber sauber und geschmackvoll.
Wir setzten uns nebeneinander aufs Sopha, und sie sprach aufs Neue von ihrem einsamen trostlosen Leben.
Sie schellte ihrem Mädchen, um mir etwas zu trinken zu bestellen; aber es kam niemand. Mir war das sehr angenehm, denn ich sagte mir, dass dieses Mädchen sie nur des Morgens bediente: was man so eine Zugeherin nennt.
Sie hatte ihren Hut abgenommen und sah wirklich allerliebst aus, als sie jetzt ihren Blick auf mich richtete. Diese Augen sahen mich so scharf, so durchdringend an, dass ich der Versuchung, die ich plötzlich empfand, nachgab und sie mit beiden Armen umfing, während ich Kuss um Kuss auf ihre jetzt geschlossenen Augenlider drückte. Ich konnte mich garnicht satt küssen, so hatte der Blick mich bezaubert.
Sie wehrte sich nach Kräften und suchte mich zurückzustossen, indem sie fortwährend rief:
»Hören Sie auf … machen Sie ein Ende … machen Sie doch ein Ende.«
Was wollte sie damit sagen? In ähnlichen Fällen wenigstens kann das Wort »ein Ende machen« einen doppelten Sinn haben. Um sie zum Schweigen zu bringen, drückte ich jetzt meine Küsse auf ihren Mund, und gab so ihrem Rufe die Deutung, die mir angenehmer war. Sie sträubte sich nicht gar zu sehr, und als wir uns nach dieser sonderbaren Art, das Andenken des in Tonkin gefallenen Kapitäns zu ehren, wieder ansahen, sprach aus ihren Augen eine hinsterbende, widerstandslose Zärtlichkeit, welche meine Besorgnisse zerstreute.
Dann wurde ich wieder ganz Weltmann, spielte den Liebenswürdigen und Unterhaltenden. Und nach einer weiteren Stunde der angenehmsten Plauderei erlaubte ich mir zu fragen:
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