Da erglühte der Arbeiter vor Seligkeit, weil er so weit fort war von den Mißlichkeiten der Front. In der Ferne erblickte er im Dunkel Piccadillys das Abbild eines reizenden Mädchens in Pelz, mit einem rostroten Armband am Handgelenk ihrer Rechten. Der Arbeiter sagte sich, es wäre schon der Mühe wert, jemanden umzubringen, um dieses Mädchens willen. Als er dann bei Glasshouse Street um die Ecke bog, wurde er überfallen. Drei andre Mädchen entstiegen dem Nebel. Eine hielt ihn mit dem üblichen Angebot auf, die zwei andern packten ihn an den Armen. Ein Mädchen schlug ihm ins Gesicht und erwischte seine Brieftasche. Die Mädchen waren gut gekleidet und dufteten nach Parfum. Das Erlebnis machte ihm nichts aus, aber die Medizin, die man ihm im Krankenhaus gegeben hatte, begann jetzt Folgen zu haben.
»Warum auch nicht?« fragte sich Sweeney, der Tägliche Arbeiter, während er weiterwandelte, aber ohne Brieftasche. »Warum nicht einen Mord begehen? Das tut doch jeder.«
Der Schlüssel fiel ihm ein, den ihm die Dame in der Nachbarstraße gegeben hatte. Er hatte sie bei einer Gesellschaft am Silvesterabend getroffen, da schon alle stockbesoffen waren, und er erinnerte sich jetzt, daß ihm die Dame gesagt habe, sie führe ein Doppelleben, in Bayswater und in Mayfair. Das paßte ihm ausgezeichnet; und er suchte mit der Taschenlampe die Namenstafeln an den Haustoren ab.
Er öffnete beide Türen und betrat die luxuriöse Wohnung. Die Dame vom Silvesterabend lag auf einem Diwan, völlig bekleidet, im Halbschlaf. Er stürzte sich auf sie, doch sie wachte nicht auf. Arbeiter Sweeney dachte, er müsse sie an ihrer Doppelpersönlichkeit packen; er umarmte sie also mit größter Leidenschaft. Plötzlich entdeckte er, daß er sie bereits getötet hatte – erstickt in seinen Umarmungen. Er leuchtete ihr mit der Taschenlampe ins Gesicht und bewunderte ihren makellosen Teint. An ihrem Hals waren keine Würgspuren zu sehen, doch leichte Abschürfungen hinten an ihren wohlgestalteten Beinen.
Der Arbeitsmann der Ewigkeit saß auf der Anklagebank, bevor er noch ein Vaterunser beten konnte. Er erklärte, nicht schuldig zu sein, und stellte einen abträglichen Vergleich her zwischen seinem eignen Schicksal und dem eines Hundes. »Während Menschen«, sagte er zu den Geschworenen mit weinerlicher Stimme, »die einen Hund im Haus haben, ihm eine Menge zu essen geben und ein hübsches Lager, um drauf zu schlafen, und ihm ein Bad geben – hätte ich eigentlich ›Pechvogel‹ heißen sollen und nicht Smith –«
Aber wo war die Dame Smith, auf die ich wartete, Miß Jane Smith? War auch sie erdrosselt? Auch sie hatte einen tadellosen Teint und führte ein Doppelleben!
Sweeney sagte: »Ich weiß nur, daß einige Hunde um einiges besser leben, als einige Menschen heute leben –«
Die Geschworenen begannen zu zittern und zu weinen, und der Vorsitzende unterdrückte einen Seufzer. Ein andrer Mordfall wurde aufgerufen, und der schien viel interessanter zu sein als der Fall der ermordeten Dame mit tadellosem Teint. Vor vierundzwanzig Jahren war eine Frau zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt worden wegen Mordes an einem wohlhabenden Bergwerksbeamten, dessen Leiche in einer versiegelten Gruft unter einer Kirche gefunden worden war. Die Freundin dieser Frau glaubte an ihre Unschuld; diese Frauenfreundin kämpfte jahrelang um die Freiheit der Frau – frei wollte sie sie haben. Nach achtzehn Jahren wurde Mrs. Judson, die angebliche Mörderin, unter Polizeiaufsicht entlassen. Doch jetzt hatte man die entkleidete Leiche der Freundin im Garten von Mrs. Judson ausgegraben, und Mrs. Judson war des Mordes an der Freundin angeklagt.
»Sehr interessant«, sagte der Mörder-Arbeiter und verließ den Gerichtssaal. Er war froh, nicht gehängt zu werden, war aber verwundert und fühlte sich ein wenig vernachlässigt. Es war ein herrlicher Sonnenaufgang über Fleet Street und der Mann wollte ein Frühstück. Er betrat eine Milchtrinkhalle, aufrecht und stolz, denn er hatte ja das Geld bei sich, das er in der Wohnung der Dame mit dem Doppelleben gefunden hatte. Neben ihm saß auf einem der hohen Barstühle eine junge Mutter, die ihr Knäblein mit Kaffee und mürbem Gebäck fütterte. »Ein Kind ist besser zu Hause zu nähren«, sagte Sweeney. »Haben Sie noch nicht gehört, wie herrlich es in der Natur eingerichtet ist, die jede Mutter mit ausreichenden Nährmitteln versorgt?« Und er zwickte die Mutter in die Brust. »Was unterstehn Sie sich?!« schrie die Mutter, und das Kind brüllte. Es war ein abstoßend häßliches Kind und hielt ein abstoßend häßliches Spielzeug auf dem Schoß. Der Arbeiter wollte die Mutter wieder versöhnen und begann das Kinderspielzeug zu bewundern. Das war ein Reiter, hoch zu Roß, aus Holz mit ein paar farbigen Flecken Stoff um Haupt und Brust, um ihn kriegerischer aussehen zu machen. »Was für ein prachtvoller Soldat!« sagte Sweeney und riß dem Kind den Holzreiter weg. Das Kind brach in wildes Geheul aus, und der Arbeiter rannte davon, ohne Frühstück gegessen zu haben. Er dachte, das Kind sollte ihm lieber dankbar sein. Übrigens könnte er ja den Spielzeugraub von Dreijährigen planmäßig betreiben und das Spielzeug an bedürftige Spielzeughändler weiterverkaufen; danach war große Nachfrage, heutzutage, im sechsten Kriegsjahr.
Ein uralter Mann tippte ihn auf die Schulter, als er gerade den Strand kreuzte. Der alte Kerl sagte mit seiner leisesten Stimme: »Marschall für Hof gesucht. Gutes Quartier, gute Bezahlung und Urlaub.«
»Fein!« sagte der Arbeiter und lächelte. »Ich komm mit Ihnen.«
Der Marschall wurde auf einen großen, leeren Hof geführt. Dort wurde er allein gelassen und ihm die Erlaubnis erteilt, unbehindert alle Gebäude und Räume zu durchstreifen. Er sammelte ein Heer im Stall und marschierte mit ihm ins Schlafzimmer des Schloßherrn. Im Schlafzimmer standen keine Betten; es gab also keine Möglichkeit, strategische Stützpunkte zu besetzen. Die Armee rückte in das Badezimmer ab und der Arbeiter befahl seinen Traumsoldaten, ihre Stiefel und Uniformen abzulegen und ins Wasser zu springen. »Sachschaden: Null. Verluste: Null«, sagte der Arbeiter. »Ein schöner Krieg. Besser ein Marschall an einem Hof als bei einem Heer.«
Dann öffnete er die Türe zur Tenne, wo er mehrere hochgestellte Zivilisten vorfand. In den vier Ecken des Raumes saßen junge Burschen an Schreibmaschinen. Die gesetzteren Mitglieder der Gesellschaft flüsterten ihm zu: »Psst – wir sind gerade dabei, die Entscheidung zu treffen.« »Entscheidung – worüber?« fragte Sweeney, der Arbeitsmann, und richtete sich auf den Hinterpfoten auf. »Marschall bin hier ich – Entscheidung, wer daran Schuld trägt.«
»Ich – ich kann Ihnen das sagen!« schrie ich. »Ich – Johnny Truck auch Hans Flesch genannt. Ich kann Ihnen sagen, wer daran schuld ist und mich hier so lange warten läßt.« Meine Wangen waren purpurrot, meine Stirne glühte, und ich schwenkte die Zeitung vor Sweeneys Gesicht. Ich war sehr aufgeregt. »Schau auf die Uhr! Fast eine Stunde zu spät! Nachrichten in Schlagzeilen! Daß ich nicht lach’! Sie sind verantwortlich!«
»Wer sind sie?« fragte der Mann, und an seiner Seite stand die Frau. Sie wenigstens war nicht zu spät gekommen.
»Sie sind wir. Wir selbst. Wir sind verantwortlich.«
»Nicht ganz«, sagte der Portier des Lokals. »Wollen der Herr vielleicht mit mir kommen, bitte?! Der Mann in der Herrentoilette hat Ihnen etwas zu bestellen.«
»Oh«, sagte ich. »Ich habe ganz vergessen.«
Ich ging in die Herrentoilette. Ich hatte die Vorstellung, daß Jane nicht komme, weil meine Schuhe so schmutzig waren.
Ich habe vorher gesagt, daß der Diener in der Herrentoilette ein Neger war, doch seine Haut war nicht ausgesprochen schwarz. Die Farbe war eher gelblich, an den Wangen dunkler und um Augen und Mund lichter. Er beugte sich mit großer Würde nieder und begann, meine Schuhe zu bearbeiten. Er war nicht gesprächig, und ich fühlte mich vereinsamt. Ich sagte etwas über den schrecklichen Nebel, doch der Mann bürstete drauflos, in unbeirrbarer Berufsmäßigkeit. Plötzlich bemerkte ich, daß auf dem Oberleder meiner Schuhe weiße Flecken und Punkte erschienen. Buchstaben formten sich, und bald konnte ich zwischen Schuhspitzen und Absätzen in winzigstem Druck Schlagworte wahrnehmen. Ich las: »GATTE LIEGT OST, GATTIN LIEGT WEST«; und: »EIN ALTER KLASSIKER«; und: »MR. BROWN, FAKTOTUM DES LEDIGEN BISCHOFS«; und: »HOAMG’FUNDA!« – eine Inschrift, die mir besonders widerlich erschien, ich mußte mich vor Scham und Schmerz nahezu erbrechen. Wir waren völlig allein in der Herrentoilette, ich fragte also den Mann sofort, was das zu bedeuten habe; ob er sich nicht darauf verstehe, richtig Schuhe zu putzen oder ob das ein Reklametrick sein sollte für dies oder jenes. Er gab keine Antwort und arbeitete weiter.
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